Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
wissen Sie denn, dass er nichts weiß?«, sagte Wallner. »Das kann ja nur heißen, dass Sie bei der Tat dabei waren und somit wissen, dass Haltmayer nicht dabei war.«
»Junger Mann, Sie können gern nach Herzenslust spekulieren. Ich werde mich daran nicht beteiligen. Ihr Chef«, er deutete auf Lukas, »will mir die Geschichte ganz offensichtlich anhängen. Er ist der Ansicht, dass ich ein schlechter Mensch bin und bestraft werden muss.«
»Vielleicht weil Sie bei der SS waren?« Wallner missfiel Kieling. Wohl gerade, weil er in dieser kritischen Situation sachlich und souverän blieb.
»Hunderttausende waren bei der SS. Und Millionen bei der Wehrmacht. Fast alle haben im Krieg getötet. Wollen Sie, der Sie nicht dabei waren, sich anmaßen, Millionen Menschen in diesem Land zu Mördern zu erklären?«
»Lassen wir das Thema, bevor mir die Tränen kommen«, sagte Lukas. »Im Übrigen – Mord bleibt Mord. Auch wenn man zwölf Jahre lang ungestraft morden durfte. Aber das Leben ist wie ein Supermarkt, nicht wahr? Am Ende kommt die Kasse.«
»Ich habe nichts zu bezahlen. Wenn Sie wegen Ihres Vaters mit der SS eine Rechnung offen haben, dann ziehen Sie die richtigen Leute zur Verantwortung.«
Wallner sah fragend zu Lukas, der aber vermied den Blickkontakt.
»Diese Ermittlungen hier haben nichts mit meinem Vater, sondern ausschließlich mit der aktuellen Beweislage zu tun. Aber gut: Wenn Sie es nicht waren, dann sagen Sie uns, wer es war. Sie scheinen es ja zu wissen.«
»Beweisen Sie mir, dass ich es war, oder lassen Sie mich gehen.« Kieling verschränkte die Arme vor seiner Brust und schwieg fortan.
Kurz darauf traf Kielings Anwalt ein. Dr. Ewald Kulka, Sozius einer bekannten Münchner Kanzlei, die schon mehrere ehemalige Mitglieder der SS verteidigt hatte. Dank der Kontakte ihres Gründers, eines ehemaligen Oberführers der Waffen-SS, beriet sie zahlreiche größere Unternehmen in wirtschaftsrechtlichen Angelegenheiten. Dr. Kulka erklärte die Vernehmung in höflichem Ton für beendet. Bevor Angaben zur Sache gemacht würden, müsse er sich erst mit seinem Mandanten beraten. Außerdem brauche er Akteneinsicht.
»Was war das für eine Sache mit Ihrem Vater?«, wollte Wallner von Lukas wissen, nachdem Kieling weg war.
»Nichts. Das bildet er sich ein. Mein Vater war einige Jahre in Dachau.«
»Kieling glaubt, dass Sie ihn dafür haftbar machen?«
»Glauben Sie, ich würde zulassen, dass der wahre Mörder frei herumläuft? Es geht ja auch um den Mord an Beck.«
»Um Gottes willen. Das würde ich Ihnen im Leben nicht unterstellen. Allerdings …«
»Allerdings?«
»Ich denke mir, es ist schwer, sich von diesen Dingen ganz frei zu machen. Dass es vielleicht irgendwo im Unterbewusstsein …«, Wallner suchte nach Worten, »… eine etwas größere Bereitschaft gibt, in Kieling den Täter zu sehen.«
»Das will ich gar nicht bestreiten. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber deswegen bearbeite ich die Sache ja nicht alleine.«
Wallner nickte. Ein Anflug von Skepsis blieb in seinem Gesicht haften.
48
W allner stocherte in seinem Käsekuchen herum, um die Rosinen herauszupopeln, die sie unsinnigerweise da hineingetan hatten.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Claudia. Sie waren in das Café gegenüber dem Polizeigebäude gegangen, um Ruhe zu haben und zu reden.
»Nichts Bestimmtes«, sagte Wallner und schob die Rosinen zu einem kleinen Haufen zusammen. »Was war das mit seinem Vater in Dachau?«
»Mein Großvater war vor dem Krieg Rechtsanwalt und Mitglied der SPD. Ich weiß nur, dass er sich nicht gleichschalten lassen wollte und einige jüdische Mandanten hatte und Leute, gegen die der Staat vorging. Irgendwann haben sie ihn abgeholt. Nach dem Krieg ist er wieder nach Hause gekommen. Er hat das KZ überlebt. Ich glaube, mein Vater hing sehr an ihm.«
Sie schwiegen eine Weile, sahen sich in die Augen, dann wieder auf den Tisch, dann nahm sie seine Hand. »Glaub mir, mein Vater kann Dienstliches von seinen Rachegefühlen trennen«, sagte sie und küsste Wallners Hand.
Wallner sah aus dem Fenster, ob man sie vom Büro aus sehen konnte. Ein Schauer ging durch ihn hindurch.
»Was ist?«
»Nichts. Es zieht irgendwo.«
Claudia blickte sich um, konnte aber die Quelle der Zugluft nicht entdecken. »Immer kalt. Wie kommt das?«
Wallner umfasste seinen Teebecher mit beiden Händen, um sie zu wärmen. »Warst du schon mal im Tegernsee baden?«
»Ja, als Kind.«
»Meistens ist der See selbst im Sommer
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