Totenstadt
sprach … was hatte man davon, wenn man doch tanzen und zu seinem heiligen Gefäß werden konnte?
Der Mond ging auf, und die Sterne schienen über ihnen, während die Trommeln und die Gesänge zu einem Fluss in einer zeitlosen Nacht wurden. Sie waren der donnernde Herd zu Beginn der Schöpfung, erneut beschworen für die Neugestaltung. Neue Herzen, neue Seelen, neue Geister … für alle. Hier war Macht, das wusste Napolean, und hier war Hoffnung. Mama Charity hatte recht gehabt: Man hatte ihm etwas sehr Kostbares genommen.
Es kam mit einer plötzlichen, blitzartigen Raserei, die nicht mehr nachlassen wollte: Das Göttliche, es war gekommen, um ihn zu besitzen, und seine Meinung war in dieser Angelegenheit genauso unbedeutend wie die eines Kindes, das einem weiseren Elternteil widersprechen will. Er war auserwählt, ein Gott würde seinen Willen bekommen, und sein Gaumen spürte den Geschmack der Agonie und der Verzückung.
Dann stand er da, auf geborgten Beinen, machte einen wackligen Schritt nach vorn, und noch einen; und als er zu den anderen kam, machten sie ihm Platz. Er fiel von Zuckungen geschüttelt auf den Boden. Laut tobten die karibischen Winde, heiß drang der Geruch der Felder und der Hitze von Afrika in seine Nase. Sein Rücken war gebeugt, doch ungebrochen, von der Peitsche zerfurcht, und darüber waren der Stolz und der zerstörerische Zorn.
Hände auf ihm – er hatte keinen rechten Arm, aber das schien ohne Bedeutung zu sein – er wurde von einem Kreis aus Männern und Frauen zurückgehalten, deren Verstand schneller arbeitete als seiner. Dann konnte er nichts mehr sehen als das Innere seines eigenen Kopfes. Sie nahmen ihm seine Schuhe, und als er sich der Massenumarmung widersetzte, war Mama Charity da mit der Asson, der Rassel aus einem Kürbis, der mit farbigen Steinen und den Wirbeln einer Klapperschlange gefüllt war, und sie schüttelte sie über seinem Kopf, der Klang beruhigte den Gott, der ihn nach Hause rief …
Während die Trommeln erklangen, hartnäckig, doch weit entfernt, wie Stimmen, die aus einem anderen Raum herüberriefen. Bis er allein stehen konnte und keine helfenden Hände mehr benötigte, gewissermaßen in göttlichem Auftrag dastand.
Wie es schon immer gewesen war.
Sonntagmorgen fand er sich in einem Bett wider, das roch, als sei es lange nicht benutzt worden. Napolean konzentrierte sich zuerst auf die Decke, schmutzig weiß und von winzigen Rissen durchzogen. Dann weiter nach unten, entlang der alten Tapete mit dem Muster aus gelben Blumen, und schließlich kam er zum Fenster. Zwei Stockwerke weiter unten wurde der Lake Portchartrain zu seinem eigenen Horizont und ließ kühle Nebel und leichte Wellen entstehen.
»Willkommen zurück unter den Lebenden.« Mama Charity lächelte ihn von einem Stuhl, der mitten im Raum stand, an, sie hatte ihre nackten Füße auf ein abgenutztes Kniekissen gebettet. Ihre Sohlen waren geschwollen und schmutzig. »Hast du Hunger?«
Er blinzelte und leckte sich die trockenen Lippen. »Durst.«
Sie deutete mit dem Kopf auf den Nachttisch, auf dem ein Glas Wasser auf ihn wartete. Er stürzte es hinunter. Seine Muskeln waren wie Gummi, und selbst seine Knochen fühlten sich so schwer und abgenutzt an wie Ambosse.
Mama Charity lächelte ob seines erbärmlichen Anblicks. »Jetzt weißt du, warum die Samstagnacht Zeremoniennacht ist. Meist verschlafen wir den kompletten nächsten Tag.«
Er runzelte die Stirn und versuchte sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Da waren Erinnerungen an mitreißende Trommeln, aber an kaum etwas anderes. »Was … ich …«
»Es ist, als würde man nach einer mit einer Flasche Whiskey verbrachten Nacht aufwachen, nicht wahr?« Sie lachte mit bebenden Brüsten und schien sich diebisch zu amüsieren. »Du erinnerst dich an gar nichts mehr, was?«
»Nein.«
Dann nickte sie. »So ist das nun mal. Es ist ja nicht so, als ob du gefallen und dann wie ein General vor seinen Truppen herumstolziert wärst. Das war der Loa in dir, der dich fortgeschickt hatte, während er sich in deinem Körper wie zu Hause fühlte. Kind, Kind, für dein erstes Mal hat er dich gut und hart geritten. Es müssen mehr als vier Stunden gewesen sein, bis er dich endlich wieder freigegeben hat. Du bist da liegen geblieben, wo er dich fallen gelassen hat, und das war dann das Ende deiner Nacht.«
»Vier Stunden?« Er versuchte, sich vorzustellen, wie er sich selbst für so lange Zeit verlieren und dennoch weiter bewegen konnte. Er
Weitere Kostenlose Bücher