Totenstadt
Seine wässrigen Augen schimmerten mit einer gewissen Transzendenz, und er lächelte Napolean an, als wolle er sagen, wie wundervoll es sei, dass die Jungen die Traditionen der Alten zu würdigen wüssten.
»Du siehst aus wie ein Junge aus der Stadt«, sagte der alte Mann.
»Das bin ich.« Aber war er das wirklich? Eigentlich wusste er gar nicht, was er war. Im Übergang, vermutete er.
Der alte Mann grinste und saugte dann mit prallen Wangen an einer Coke-Flasche. »Zaka war dieses Jahr gut zu mir. Zaka … den wirst du nie in der Stadt sehen, nein, nein.« Er lachte mit der Fröhlichkeit eines uralten Kindes.
Napolean erkannte, dass dies eine Erntedankfeier war. Am Rand waren die Früchte der Saison aufgereiht, Opfergaben für Zaka, den Schutzherrn der Feldfrüchte und des Ackerbaus.
Die vor Erregung angespannte Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als ein lauter Donner durch die Luft hallte. Drei Trommler an ihren Rada- Trommeln, ein Mann mit Dreadlocks, ein weiterer mit Sonnenbrille, schlugen gnadenlos mit ihren Händen, Fingern und Handflächen zu und waren rasch mit frischem Schweiß bedeckt.
Mama Charity verließ die Reihen der Gläubigen, nahm ein Glas Wasser in die Hand und zeigte damit nach Norden und Süden, Osten und Westen, dann machte sie das Zeichen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sie tanzte zum Eingang des Humfos, spritzte einige Trankopfer auf den Boden, und als sie zurücktanzte, schien sie eine andere Frau zu sein, so behände wie eine Elfe. Sie tauchte ihre Hand in einen Sack voll Maismehl und ließ es in einem dünnen Strom auf den Boden rieseln, so erzeugte sie die Muster der Götter, die Vèvès, Kurven und Kreuze und verstreute Hieroglyphen. Ein Schrei erhob sich, als sie fertig war, und Napolean sah zu, wie Platten und Körbe voller Nahrung nach vorn gebracht und auf die Vèvès gestellt wurden, um die Götter zu ehren; dann träufelte man Rum darüber, um den Durst der Götter zu stillen.
Dann ertönten erneut die Trommeln, und die Hunsis gesellten sich zu Mama Charity, größtenteils junge Frauen in den weißen Baumwollkleidern junger Initianten, sowie der Zeremonienmeister mit seiner Machete. Das Chaos der Trommeln, Tänze und Lieder war süß und unsterblich, und laut, so ohrenbetäubend laut, dass Napolean nicht mehr denken konnte, nicht mehr denken wollte, es war kein Platz mehr da für Gefühle, aber das Gefühl war allgegenwärtig.
Die Speisung der Loa wurde fortgesetzt, Messer und Machete öffneten die Kehlen der Tieropfer … zuerst die eines Vogels, dann die einer jungen Ziege. Er wusste, dass sie von den Göttern berührt wurden; diese Tiere zeigten keine Furcht, selbst dann nicht, als sie das Blut rochen und die Todesschreie hörten. Sie hießen die Klinge gelassen willkommen, selbst als die Trommeln immer frenetischer geschlagen wurden. Die Augen der Tiere erblickten Mysterien, die die Männer und Frauen niemals deutlich sehen würden … und sie boten bereitwillig die Kehlen den Göttern dar.
Die Trommeln, die Trommeln … wie das Poltern der Erde unter den Männern, unter den Frauen, unter den Bäumen, dem Gras und den Tieren, einer jungfräulichen Erde, die nichts als den Geist und die vom Himmel steigende Schlange kannte …
Und er war da, in ihrer Mitte, Damballah-Wèdo, der Gott der Schöpfung, er war aus dem Wasser des Himmels gekommen, um in den Körper einer Frau zu fahren, der in wilde Zuckungen ausbrach und dann in den Staub fiel, um sich schlangenartig zu winden, die Frucht auf seinem Vèvè zu essen und sein Werk zu tun.
Zaka trat als Nächster ein. Er erwählte einen alten Mann, und er tat dies so gezielt, als würde er eine einzelne Traube aus einer ganzen Rebe auswählen; er warf ihn mit erschaudernder Gewalt zu Boden, nur um ihn Augenblicke später wieder mit einem neuen Gesicht, einer neuen Stimme, neuen Augen und einer neuen Persönlichkeit zu erheben. Zaka verlangte und erhielt sein Hemd aus ausgeblichenem blauem Jeansstoff, seine ausgebeulte Hose, seinen Strohhut, und neben Napolean brach der alte Mann verzückt in Tränen aus und eilte nach vorn, um den Gott zu besänftigen.
Die göttlichen Reiter, sie waren die Götter, die ihre Anhänger ritten, wie Reiter ihre Rösser bestiegen. Die Auserwählten waren gesegnet, denn ein großer Loa konnte niemals ein kleines Pferd besteigen. Und es machte Sinn, diese älteste Art der Anbetung. In eine feierliche Grabstätte zu gehen und einem Priester in einer Robe zuzuhören, der von Gott
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