Totenstadt
was man ihm gesagt hatte. Man hatte ihn mit Lügen gefüttert, würde er da nicht letztendlich die zerbrechliche Mauer sehen, die sie als einzige Wahrheit errichtet hatten?
»Sie haben dir zwar ein Bett und ein Dach über dem Kopf gegeben, das nicht leckte«, sagte Mama Charity mit furchtbar wissenden Augen. »Aber, Kind, ich wage zu behaupten, dass sie dir etwas genommen haben, was weitaus wichtiger ist als der bloße Komfort. Sie haben dir deine Heimat genommen und ihren rechtmäßigen Platz in deinem Herzen.«
Und war es nicht in gewissem Sinn die Wahrheit? Wenn seine Jugend in einem anderen Land, die ihm schon fast entfallen war, durch eine größere Armut charakterisiert war, als er sie seitdem gesehen hatte, so konnte er sich zumindest daran erinnern, dass es in Haiti einen tieferen Geist gegeben hatte, als man ihn hier finden konnte.
»Und nun sag mir eines: Weißt du, was ein Poteau-Mitan ist?«
Das Wort klang sehr vertraut, es ließ eine Vergangenheit auferstehen, die vergessen und im Schlamm dieses neuen Landes begraben war. Dann wusste er es:
»Die Säule«, flüsterte er. »Die Leiter, die in den Himmel führt, damit die Götter daran heruntersteigen können.«
Mama Charitys rundes Gesicht strahlte wie das einer Mutter, die sah, wie ihr Kind die ersten Schritte machte. »Siehst du? In dir könnte trotz allem noch ein kleiner Haitianer stecken. Und nach der heutigen Nacht vielleicht sogar noch sehr viel mehr.«
Das hörte er nun überaus gern.
Die Samstagnacht verlief so, wie er es fast sein halbes Leben nicht mehr erlebt hatte. Mama Charity ließ ihren Laden in den Händen einer Aushilfe namens Jo-Jo, und sie fuhren los, nach Norden, durch die Stadt und an die entfernte Küste des Lake Pontchartrain. Hier besaß sie inmitten des raschelnden Grases und der Rohrkolben, dem Quaken der Frösche und dem entfernten Brüllen der Alligatoren ein renoviertes Farmhaus mit acht Morgen Land, das letzte große Geschenk ihres geliebten zweiten Ehemannes.
Hier versammelten sie sich, die meisten schwarz, einige Weiße, Anhänger einer Religion, die in der Alten und der Neuen Welt geboren wurde. Für Napolean war Vodoun seit seiner Ankunft in Twin Oaks ein Quell gemischter Emotionen. Wir können süß wie Honig oder bitter wie Galle sein, besagte ein haitianisches Sprichwort, um die Dualität des Vodoun zu erklären, seine Ambivalenz, sein Potenzial, gut oder böse sein zu können. Dass Seelen verletzlich waren oder sogar gestohlen werden konnten, das war unter Mullaveys Dach bei den Hausangestellten sehr wohl bekannt, auch wenn sie es nur selten erwähnten. Der Zeremonien beraubt, sahen sie nur die Schrecken, die ihre Religion zu bieten hatte, konnten aber nicht von ihrer Erbauung profitieren. In Twin Oaks floss nichts als Galle.
Anfangs versammelten sich die Hausangestellten und die Arbeiter der Zuckerrohrfelder spät in der Nacht um das tanzende Lagerfeuer und ließen die noch zu Hause angefertigten Rada- Trommeln erklingen, wenn Andrew Jackson Mullavey schon lange schlief. Und die freien Rituale wurden mit ihrer Unbekümmertheit und ihren Opfern fortgesetzt, wie sie es schon immer getan hatten. Aber die Kluft, die sich entwickeln sollte, schien unausweichlich zu sein. Jeden Tag waren sie dem alltäglichen Leben in einem Land ausgesetzt, das ihnen früher so fremd war wie das mythische Guinea, und die Hausangestellten konnten gar nicht anders, als seinem Einfluss zu erliegen – sehr zur Bestürzung der anderen. Haitianer, die zu prahlerisch ihre Profite zur Schau stellten, wurden von jenen, die weniger Glück hatten, oft mit misstrauischen Augen beäugt, und alle, die für das einfache Leben in Twin Oaks auserkoren wurden, hatten zweifellos ein Abkommen mit den Göttern geschlossen, um ihre Brüder und Schwestern zurücklassen zu können. Letztendlich waren sie bei den Zeremonien am Flussufer nicht länger willkommen.
Orvela LaBonté, die Älteste der Hausangestellten, war am besten bewandert in den alten Wegen der haitianischen Bergbewohner. Sie beschützte, wen sie konnte oder wollte, das galt auch für Fremde, die die Nacht hier verbrachten, aber ihre schwache Magie war der Macht eines wahren Bokor nicht gewachsen.
Aber gleich, ob Hausangestellte oder Arbeiter auf dem Zuckerrohrfeld, alle waren zutiefst eingeschüchtert von Mr Andrew und seinem Bruder. Sie herauszufordern war undenkbar. Niemand hatte das je zu Napoleans Zufriedenheit erklären können, er wurde stets aufgefordert, zu schweigen, wenn
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