Totenstadt
hätte alles mit jedem tun können, und man hätte ihm nie die Schuld dafür gegeben.
Napolean sank aufs Bett, in die weiche Sicherheit, und zog die Bettdecke hoch. Darunter trug er nichts außer seiner Unterwäsche. Wer hatte ihn hier heraufgebracht und ausgezogen? Wer hatte seine Kleidung ordentlich zusammengefaltet auf die Kommode am Bettende gelegt? Vertraute Fremde.
»Wer ist zu mir heruntergekommen?« Wollte er es überhaupt wissen?
»Ein Loa namens Macandal.« Sie kreuzte recht undamenhaft die Beine und zog einen Fuß auf ihren Schoß. Abwesend pulte sie an der Hornhaut ihres rechten großen Zehs herum und runzelte dabei die Stirn. »Damit hat er mich wirklich überrascht, das muss ich zugeben. Ich hatte Macandal noch nie gesehen, nicht einmal in meinem ganzen Leben, und ich muss jetzt ehrlich zugeben, dass es ein furchterregendes Vergnügen war, seine Bekanntschaft zu machen. Es brannte ein völlig anderes Feuer in deinen Augen, so viel steht fest. Ich dachte zuerst, es sei Ogu, der heruntergestiegen war, aber nein, du gingst nicht zum Schwert, das wolltest du nicht.« Sie beugte sich in ihrem Stuhl vor, um es kurz zu imitieren. »Du hast deinen Arm ganz komisch gehalten, er war ganz steif und nutzlos, als hättest du völlig vergessen, dass er da war. Ich habe eine Minute gebraucht, bis ich es erkannte. Macandal.«
Der Name sagte ihm nichts. »Wer ist er?«
»Macandal? Er war einst ein Mann, genau so real wie du und ich. Die Toten werden mit der Zeit auch zu Göttern, wenn ihre Familien ihre Seelen zurückverlangen. Meist betet außer ihren Familien niemand zu ihnen. Es sind kleine, winzige Loa, außer ihren Verwandten kennt niemand ihren Namen. Du und ich? Vielleicht werden wir auch eines Tages Loa sein, möglicherweise werden uns Menschen anbeten und um unsere Gunst bitten. Und das würde mir sehr gefallen, wenn meine Kinder und meine Enkel sich an mich erinnern, wenn ich fort bin, und wenn ich ihnen noch etwas Gutes tun kann …
Aber Macandal? Das ist ein toter Mann, der zum Loa geworden ist und an den sich ein ganzes Land erinnert.«
Mama Charity erhob sich und ging über knarrende Bodendielen mit schweren Schritten, die beinahe arthritisch wirkten, zum Fenster hinüber. Sollte das dieselbe biegsame Tänzerin aus der vergangenen Nacht sein? Sie lehnte sich auf das Fensterbrett und sah hinaus in den Morgen, auf das Land, das Wasser und die Zeit.
»Ich frage mich, was Jo-Jo mit meinem Laden anstellt«, meinte sie. »Er hat ein gutes Herz, aber nicht viel Verstand. Die Leute können ihn viel zu leicht mit dem Preis runterhandeln oder er gibt ihnen kleine Bonusgeschenke. Er muss auch von Cajun abstammen, schätze ich.« Sie drehte sich um, stand nun mit dem Rücken zum Fenster und lehnte den üppigen Rumpf gegen das Fensterbrett. »Hältst du mich für eine gierige Frau, Napolean? Ich weiß einfach nie, was du denkst.«
Er lächelte. Es war keine Absicht, dass er seine Gefühle so gut verbarg, aber es war ihm wohl zur Gewohnheit geworden. Sein Chauffeursgesicht.
»Ich glaube«, erwiderte er, »dass Sie weitaus großzügiger sind, als Sie es sich selbst eingestehen wollen.«
Mama Charity kaute gedankenverloren auf ihrer Unterlippe herum und zuckte dann die Achseln. »Geschäft ist Geschäft.«
»Macandal. Erzählen Sie mir von Macandal.«
»Ah. Macandal.« Ein verträumter Gesichtsausdruck überzog ihr breites Gesicht, als sie sich an die Legende erinnerte. »Vor zweihundertundfünfzig Jahren hieß die Insel, von der du stammst, noch Saint Domingo. Ein Sklave namens François Macandal blieb auf einer Zuckerplantage mit dem Arm in den Zahnrädern einer Zuckerrohrpresse hängen. Der Arm wurde in die Maschine gezogen und bis hoch zur Schulter zerstampft. Den Rest konnte er selbst rausziehen, aber es war zu spät. Er verlor den Arm, jemand nahm eine Machete, um ihn abzutrennen. Angeblich überwältigte ihn daraufhin der Schmerz, und er sah Visionen seiner Heimat in Afrika, dem Königreich Mandigo.
Die meisten Männer wären daran gestorben, aber die Sklaven wussten bereits, dass Macandal nicht wie die meisten Männer war. Er verzog keine Miene, wenn er ausgepeitscht wurde, und des Nachts erzählte er so lebhaft von ihrem Heimatland, dass es war, als würde er sie wieder dorthin zurückbringen. Die Frauen stritten sich darum, in seinem Bett zu schlafen, weil er so mächtige Träume hatte. Und als er seinen Arm auf diese Weise verlor und nicht daran starb, begannen die Sklaven zu glauben, er sei
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