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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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er als Heranwachsender danach gefragt hatte. Sieh sie dir an, sieh sie dir an, sagte Orvela immer, als ob das bereits die Antwort sei. Als er einige Zentimeter gewachsen war und sein Talent zum Fahren bewiesen hatte, hatte er die Fragerei aufgegeben. Er legte sie zu seinem alten Aberglauben über weiße Männer, der ihm immer lächerlicher vorkam, je mehr er sich in ihrer Welt bewegte und auf ihren Straßen herumfuhr.
    »Das hat nichts mit schwarz oder weiß zu tun«, hatte Mama Charity ihm im Wagen auf dem Weg zum Lake Pontchartrain gesagt. »Oder mit rot, gelb oder braun. Hast du noch nie vom Kult von Marassa gehört?«
    Napolean schüttelte den Kopf und sagte, dass er nie davon gehört habe.
    Mama Charitys Augen weiteten sich. »Hohohoho. Der Kult von Marassa? Das sind Zwillinge. Mächtige Magie steckt in Zwillingen, wird behauptet. Jeder Mann, jede Frau, ist halb Mensch und halb Gott, alles mit Fleisch ummantelt. Aber Zwillinge kommen zusammen, und das ist ein Zeichen. Man sagt, Zwillinge seien zwei Hälften derselben Seele, und darum legt man sich auch nicht mit ihnen an. Vielleicht hast du so etwas in Haiti nie gesehen, aber du müsstest wissen, dass ein Zwilling seinen Bruder oder seine Schwester töten konnte, ohne dass jemand etwas dagegen sagt. Sie würden alle einfach so tun, als sei nichts geschehen. Man sagt, dass man sich einen Zwilling nicht zum Feind machen sollte.«
    Napolean dachte einen Moment lang darüber nach. Das erklärte auf jeden Fall einiges. »Glauben Sie daran?«
    Sie sah ihn amüsiert und gleichzeitig warnend an. »Sagen wir einfach, dass ich es nie darauf anlegen würde.«
    Sie haben uns gut ausgesucht, nicht wahr? Hatten die Mullaveys von vorneherein gewusst, was sie taten, oder hatten sie einfach die Gelegenheit ergriffen, als sie sich ihnen bot? Nicht dass das etwas ausmachen würde.
    »Nach heute Nacht wirst du dich besser fühlen«, erklärte ihm Mama Charity. »Vielleicht siehst du dann ein wenig deutlicher, wer du wirklich bist. Und nicht das, was ein dicker, lügender weißer Mann – Zwilling oder nicht – in dir gesehen hat.«
    Daran klammerte er sich, nachdem sie auf ihrem Land an der Nordküste des Sees angekommen waren, wo schon andere Autos und Vans, Motorräder und Fahrräder warteten. Jünger der Mambo, der Priesterin. Sie ging vor ihm her und durch die Menge, berührte Hände und Gesichter mit der zarten Fürsorge einer Heilerin. Diese Bittsteller gingen bei Tag ihren eigenen Weg und waren des Nachts doch alle gleich. Es war ganz offensichtlich, dass sie sie liebten. Es war klar, dass sie sie respektierten. Und es war weise, dass sie sie fürchteten, wenn auch nur ein wenig. Die Loa waren launenhaft, und ihre Diener waren auch nur Menschen.
    Napolean folgte ihr, mischte sich unter den Pulk aus Feiernden, die lachten und aus Rum- oder Colaflaschen tranken, und dass er ein Fremder war, schien überhaupt nichts auszumachen. Dies war keine ernste Prozession, die einer finsteren Liturgie folgte, sondern ein tief empfundenes Bestreben, über das Sichtbare hinauszugreifen, das Unendliche zu berühren und einen Teil davon zu seinem eigenen Wohl in sich aufzunehmen.
    Sie versammelten sich am Ufer des Sees in einem offenen Gebäude aus Holz und zerfurchtem Metall, das von schroffen Eichen umgeben war, um deren Äste sich Lousianamoos rankte. Der Boden bestand aus gestampfter Erde, und von der Decke hingen nackte Glühbirnen. Um den Poteau-Mitan herum war genug Platz, um zu tanzen, weiter hinten standen einige Bankreihen für jene, die eine weniger anstrengende Verehrung bevorzugten.
    Keine Kathedrale aus Stein und mit Buntglasfenstern hätte heiliger erscheinen können.
    Der Altar stand mit Blumen und Kerzen beladen da, darauf standen ferner Flaschen mit Trankopfern und Abbilder der Götter sowie Lehmtöpfe mit den Seelen der Ahnen oder denen lebendiger Gläubiger, die sie Mama Charitys Obhut anvertraut hatten. Die Accessoires der Loa befanden sich in Reichweite, falls einer der Götter in den Leib eines Anwesenden herabsteigen und danach verlangen sollte: die Krücke von Papa Legba, das Schwert von Ogu, das Kleid und das Parfum von Erzuli, der schwarze Frack und der Zylinder von Baron Samedi. Und weitere. Es gab viele Loa, und das Pantheon wurde täglich größer, wenn die verstorbenen Ahnen in die Himmelsränge aufstiegen.
    Napolean setzte sich neben einen weisen Mann, der sich die Stirn mit einem hellroten Taschentuch abwischte und sich dann wieder seinen Strohhut aufsetzte.

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