Totenstadt
Freude wir doch an so etwas haben können, solange es nichts Besseres zu tun gibt; wir können uns schon durch die reine Präsenz des anderen häuten und seine Narben mit dornenbesetzten Drahtzungen küssen. Wir beiden Sünder sind die einzige Bestrafung, die wir brauchen.
Justin verließ sie, als sie im Bad Pillen schluckte, das Laken war ihr halb entglitten und breitete sich wie ein Brautschleier mit einigen Flecken hinter ihr aus. Er setzte die Ray-Ban auf, seine Rüstung an diesem frühen Morgen, an dem das Sonnenlicht zu durchscheinend war, um die Lüge aufrechterhalten zu können. Es war 7:30 Uhr, er schlich zum Loft und fühlte sich schuldiger als jede Hure.
Aber noch nicht, noch nicht.
Lebe dieses Leben, und mit der Zeit wusste man, welche Bars um die Stunde schon geöffnet hatten. Was für ein Durst, ein Bier würde es erleichtern und die Zunge befeuchten, die trocken wie Sägemehl war. Er fuhr durch den morgendlichen Verkehr in Tampa und hielt zuerst an einem Zeitungsladen, um einige Exemplare zu kaufen.
Dann in die Bar, ein Tisch für eine Person, Bier für zwei. Er legte die Tampa Tribune beiseite, die würde er später lesen. Der New Orleans Times-Picayune galt vorerst seine ganze Aufmerksamkeit.
Es war zu einem täglichen Ritual geworden, jede Ausgabe genauestens zu durchforsten. Er suchte nach jeder Zeile, in der Andrew Jackson Mullavey oder Nathan Forrest erwähnt wurden, irgendeinem Hinweis, dass einer von ihnen bekommen hatte, was er verdiente. Wie es bei Hobbys üblich war, wurde er auch bei diesem nicht belohnt, auch wenn sie für eine Menge geradestehen mussten; es sah ganz so aus, als ob es mit der Zeit sogar immer mehr Anschuldigungen wurden.
Christophe Granvier hatte erst sehr spät aus Miami angerufen, aber bis der Anruf kam, hatte Justin kaum daran gedacht. Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten, hatte er sich gesagt, bis Christophe ihm das Gegenteil mitteilen musste.
Napolean Trintignant war tot. Justin hatte mit merkwürdiger Erleichterung festgestellt, dass er noch immer um die Toten weinen konnte.
Die restlichen Haitianer – jene, die mitgegangen waren – hatten nun die schwerste Zeit ihres Lebens vor sich, wenn sie im Land bleiben wollten. Viele von ihnen waren in ganz Miami bei Sympathisanten des Sanctuary-Movement untergekommen, bis man eine passende Strategie entwickelt hatte, mit der man ihre Chancen auf einen Verbleib in diesem Land vergrößern konnte.
Das war nicht fair, vor allem da Mullavey immer noch frei herumlief.
Apropos …
Justin fand einen kleinen Artikel – eher eine Lobhudelei – über sein anstehendes Ehrenbankett. Das hatte er völlig vergessen. Mann des Jahres, gewählt von der Direktorenallianz für eine bessere Zukunft, angesetzt für diesen Freitag.
Heute war Mittwoch, also noch zweieinhalb Tage? Das war im Bereich des Möglichen.
Nach zwei weiteren Bier hatte ihn sein aufgebrachter Gerechtigkeitssinn so weit, dass er die Reise machen wollte.
Und ein weiteres überzeugte ihn von der Möglichkeit, dass er nicht mehr zurückkommen könnte.
34
W AS EIN M ENSCH GESCHAFFEN HAT , KANN EIN ANDERER ZERSTÖREN
Der Smoking schien ihm besser zu passen als in den letzten Jahren; Mullavey glättete den Kummerbund und stellte sich aufrecht wie eine Eiche vor den Schlafzimmerspiegel. Seine Wangen glänzten nach der Rasur rosa, und er war gestern beim Friseur gewesen. Er drehte sich hin und her; er war zufrieden, dass er aus jedem Winkel wie der Ehrengast aussah.
»Sag mal«, sagte er zu dem Spiegel, »es sieht ganz so aus, als hättest du in letzter Zeit etwas abgenommen?«
»Vielleicht hast du das, vielleicht auch nicht.« Clarisse sah ihm mit trägem Blick vom Bett aus zu. Sie hatten das Bett seit letzter Nacht nicht benutzt, sie verbrachte in letzter Zeit nur viel zu viel Zeit darin. »Wenn ich Ja sage, nimmst du mich dann mit?«
»Ich habe eine Rechenaufgabe für dich.« Er runzelte die Stirn, zog seine Krawatte in Form und schaffte es einfach nicht, sie auszurichten. »Bist du bereit? Hier ist sie: Wie oft haben wir das bereits besprochen?«
»Nicht oft genug, da ich heute Abend trotzdem hierbleiben muss.«
Trotziges kleines Ding. Sie roch wie eine Rumflasche. Das musste ein Fluch dieser müßigen Neureichen sein. Während er immer mehr abnahm, legte Clarisse zu. Liebe, Freundschaft oder ein bequemes Arrangement, so schien es doch nur selten vorzukommen, dass sich zwei Menschen gleichzeitig in dieselbe Richtung entwickelten.
Zweifellos würde
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