Totenstätte
den Kopf und spürte ein Engegefühl im Hals. Mühsam wehrte sie sich gegen die aufsteigenden Tränen. »Wenn ich das nur wüsste …«
Steve trat auf sie zu und streichelte ihr sanft übers Gesicht. »Du musst nichts in den Griff bekommen, Jenny. Du musst loslassen.«
»Ja, richtig … Ein emotional enthemmter Coroner würde bestimmt Vertrauen einflößen.«
»Versuch es … Ich denke, du möchtest es sogar.«
Er fuhr ihr mit der Hand durchs Haar und streichelte ihren Nacken, dann berührte er mit seinen Lippen ihre Wange.
Es war ein gutes Gefühl, ihm wieder so nahe zu sein und die Wärme seiner Haut zu spüren.
»In deiner Nachricht hast du gesagt, du willst mir etwas mitteilen«, sagte Jenny.
Steve schloss die Augen und suchte nach Worten.
»Ich weiß nichts über deine Gefühle«, sagte er. »Ob du zum Beispiel mit mir zusammen sein möchtest oder … Aber ich möchte mit dir zusammen sein, Jenny. Monatelang habe ich versucht, es nicht zu sagen, aber ich muss es tun. Ich liebe dich.«
Sie war schockiert. »Das meinst du nicht so.«
»Du hast schon genug Dinge am Hals, als dass ich etwas sagen müsste, das ich nicht so meine.« Er küsste sie auf die Stirn. »Also, ich habe es ausgesprochen. Jetzt ist es an dir.«
Er ließ sie stehen und nahm seinen Spaten. »Ich habe mir vorgenommen, das Beet hier bis zum Mittagessen fertig zu haben. Möchtest du bleiben?«
»Ich muss meinen Vater besuchen.«
»Oh … Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt.«
»Er ist in einem Pflegeheim in Weston untergebracht. Ich muss ihn etwas über die Vergangenheit fragen. Ärztliche Anweisung.«
»Dann solltest du das auch tun … Aber wenn du mir eine Abfuhr erteilen möchtest, dann wäre es mir lieber, du würdest mich jetzt sofort von meinem Elend erlösen.«
Jenny schaute in den eisblauen Himmel hinauf. »Ich könnte hinterher zurückkommen.«
»Wirst du dann bleiben?«
»Ja. Das wäre schön … Heute scheint der ideale Tag für einen Neuanfang zu sein.«
In den letzten fünf Jahren hatte sich Brian Coopers Leben in einem zwei mal drei Meter großen Zimmer im ersten Stock einer großen Villa abgespielt, deren Fassade mit kieselhaltigem Mörtel verputzt worden war. Die Einrichtung lag in einer windgepeitschten Straße in Küstennähe. Brian Cooper war erst dreiundsiebzig und eigentlich noch ziemlich rüstig,aber bereits mit Mitte sechzig hatte ihn die Demenz ereilt, und seine zweite Frau, die Jenny nie gemocht hatte, hatte nur ein einziges Jahr gebraucht, um ihn ins Heim zu stecken und einen anderen Mann zu finden, der ihr billige Mittelmeerkreuzfahrten finanzierte. Zunächst hatte Brian Cooper noch viele Besucher gehabt, aber als seine klaren Momente immer seltener wurden, war die Zahl auf ein pflichtbewusstes Häufchen zusammengeschrumpft. Das letzte Mal hatte Jenny ihn an Weihnachten gesehen, als er seinen Abendbrotteller Richtung Fernseher geworfen hatte, weil er dachte, die Nachrichtensprecherin sei seine erste Frau.
Die Pflegerin bereitete Jenny darauf vor, dass er vermutlich sehr schweigsam sein würde. Man hatte ihm neue Tabletten gegeben, um seine zunehmend unberechenbaren und explosiven Ausbrüche in den Griff zu bekommen. Jenny fühlte sich stets unbehaglich bei dem Gedanken, dass die Pfleger die widerspenstigen Bewohner des Heims sedierten, hatte aber mittlerweile eingesehen, dass es dazu keine Alternative gab.
Sie klopfte an die Tür und öffnete sie.
»Hallo, Dad.«
Er saß in Hemdsärmeln in seinem Lehnstuhl, der zum Fenster ausgerichtet war und von dem man auf die Straße hinausschauen konnte. Er war sauber und rasiert, seine Haare waren ordentlich geschnitten.
»Dad? Ich bin’s, Jenny.«
Sie ging zum Bett, das neben dem Stuhl stand, und setzte sich.
»Wir haben uns eine Weile nicht gesehen. Wie geht es dir?«
Sein Blick schoss misstrauisch zu ihr hinüber. Sein Mund bewegte sich, aber kein Laut drang heraus. Dann schien er das Interesse zu verlieren und betrachtete eine Möwe, dieauf dem Fenstersims gelandet war und ein Stück Brötchen von einem Burger im Schnabel hatte. Er lächelte.
»Du siehst gut aus«, sagte Jenny. »Wie geht es dir?«
Keine Antwort. Er reagierte selten, aber der Arzt hatte ihr gesagt, dass sie, solange sie es ertragen konnte, mit ihm wie mit einem Erwachsenen reden solle. Es war nie ausgeschlossen, dass er etwas wahrnahm, hatte er gesagt, und sie würde es schon merken, wenn er überhaupt nichts mehr verstand. Jenny suchte nach Zeichen dafür, dass er sie
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