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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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friedvoll. Mein Exmann und ich sind Anhänger von Sheikh Abd al-Latif. Religion ist eine Sache zwischen uns und Gott. Politik bleibt außen vor. Auch Nazim war so erzogen worden. Er sollte seine Mitmenschen achten, egal um wen es sich dabei handelt.« Auf ihrem Gesicht machte sich Unverständnis breit. »Später hieß es dann, er sei in die Al-Rahma-Moschee gegangen, auch zu den Treffen …«
    »Was für Treffen?«
    »Mit den Radikalen von der Hizb ut-Tahrir, hat die Polizei gesagt. Die Beamten haben behauptet, er hätte eine halaqah besucht.«
    » Halaqah ?«
    »Eine kleine Gruppe. Eine Zelle, wie die das nennen.«
    »Lassen Sie uns einen Moment hier verharren. Wann ist Ihr Sohn erstmals zu diesen Treffen gegangen?«
    »Das weiß ich nicht genau. Irgendwann nach Weihnachten.«
    »Okay.« Jenny notierte sich, dass alles, was mit Nazim geschehen war, irgendwie mit Leuten zu tun haben musste,die er im Winter 2001/2002 kennengelernt hatte. »Anfang 2002 haben Sie also eine Veränderung an Ihrem Sohn bemerkt. Was passierte dann?«
    »In den Osterferien war er noch genauso. Sein Vater hat nicht mit mir gesprochen, also wusste ich nicht, ob Nazim sich auch bei ihm anders verhielt. Aber ich habe mir Sorgen gemacht.«
    »Warum?«
    »In meiner Gegenwart hat Nazim nie über Religion gesprochen, aber mir waren ein paar Dinge zu Ohren gekommen. Dinge, die jeder gehört hatte. Die Hizb, die Anhänger dieses Kriminellen Omar Bakri, haben nur Politik im Sinn. Sie erzählen den jungen Leuten, dass sie für ihr Volk kämpfen müssen, für ein khalifah – einen islamischen Staat. Für junge Gemüter ist das Gift.«
    »Wissen Sie genau, dass Ihr Sohn sich mit Radikalen eingelassen hatte?«
    »Ich weiß gar nichts. Ich gebe nur wieder, was die Polizei mir erzählt hat.« Sie zeigte auf die Box mit den Papieren. »Angeblich haben sie beobachtet, dass er jeden Mittwochabend zur halaqah in ein Haus in St. Pauls gegangen ist. Er und Rafi Hassan, ein Freund von der Uni.«
    »Erzählen Sie mir von Rafi.«
    »Er war in Nazims Jahrgang und hat Jura studiert. Sie haben im selben Studentenheim gewohnt, in Manor Hall. Seine Familie kommt aus Birmingham.«
    »Haben Sie ihn kennengelernt?«
    »Nein. Nazim hat ihn kaum erwähnt. Ich habe das alles erst von der Polizei erfahren … Danach.« Sie holte ein frisches Taschentuch aus der Tasche und tupfte sich die Augen ab, während sie auf ihrem Stuhl vor und zurück schaukelte.
    »Nach was?«, drängte Jenny vorsichtig.
    »Im Mai habe ich Nazim nur noch ein Mal gesehen. Erkam an einem Samstag, es war mein Geburtstag. Seine Tanten und Cousins waren auch da. Es war ein wunderbarer Tag, und er war wieder ganz der Alte … Und dann hat er mich noch ein Mal im Juni besucht, am 22., ebenfalls ein Samstag.« Die Daten hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. »Er tauchte mittags bei mir auf, vollkommen blass. Angeblich fühlte er sich nicht wohl und hatte Fieber und Kopfschmerzen. Den Nachmittag und den Abend hat er im Gästebett verschlafen. Dann hat er Suppe gegessen, meinte aber, er sei immer noch zu müde, um zur Uni zurückzukehren. Also ist er über Nacht geblieben. In der Morgendämmerung bin ich aufgewacht und habe ihn beten hören, im perfekten tajwid – er hat aus dem Koran rezitiert, wie er es als Junge gelernt hatte.« Zittrig atmete sie ein und schloss die Augen. »Ich muss wieder eingeschlafen sein. Als ich später aufstand, um das Frühstück zu machen, war er fort. Er hatte eine Nachricht hinterlassen: Danke, Mum. Bye. Naz. Der Zettel ist hier bei den Papieren … Ich habe ihn nie wiedergesehen.« Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Sie presste das mit Wimperntusche beschmierte Taschentuch an die Augen und versuchte, sich zu sammeln. »Die Polizei sagte … Sie sagten, sie hätten ihn Freitagabend, den 28. Juni 2002, um halb elf von der halaqah kommen sehen. Das war in der Marlowes Road in St. Pauls. Nazim ist mit Rafi Hassan zur Bushaltestelle gegangen, sonst nichts. Am nächsten Morgen kam er nicht zum Tennistraining, und am Montag ist keiner der beiden zum Seminar erschienen. Die Polizei hat mit allen Studenten des Wohnheims gesprochen, aber niemand hatte ihn am Wochenende gesehen – oder später.«
    Jetzt verlor Mrs. Jamal doch die Fassung. Jenny ließ sie ungestört weinen. Sie hatte gelernt, dass man trauernden Angehörigen am besten mit respektvollem Schweigen und einfühlsamem Lächeln begegnet. Wie gut auch immer sie gemeint sein mochten, Worte konnten den Schmerz der Trauer nur

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