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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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und dass eine Untersuchung keine Abhilfe schaffen würde.
    »Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, dass wir herausfinden, was mit Ihrem Sohn passiert ist«, sagte Jenny. »Vielleicht sollten Sie sich fragen, was Sie von einer gerichtlichen Untersuchung erwarten. Sie wird Ihnen Ihren Sohn nicht zurückbringen.«
    Mrs. Jamal sammelte ihre Papiere ein. »Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit vergeudet habe.«
    »Ich lehne es nicht ab, das Verfahren …«
    »Offenbar haben Sie keine Kinder, Mrs. Cooper, sonst würden Sie verstehen, dass ich keine Wahl habe. Verglichen mit dem meines Sohns ist mein Leben ein Nichts. Ich würde lieber sterben, um herauszufinden, was passiert ist, als weiter mit dieser Ungewissheit leben zu müssen.«
    Mrs. Jamal stand auf, als würde sie ohne ein weiteres Wort hinausmarschieren wollen, dann aber schien plötzlich die Energie aus ihr zu weichen, und sie zögerte. Langsam stellte sie die Archivbox auf den Schreibtisch, faltete die Hände vor dem Körper und ließ den Kopf hängen, als hätte sie nicht mehr die Kraft, ihn aufrecht zu halten. »Ich muss mich entschuldigen, Mrs. Cooper. Ich habe zu viel von Ihnen erwartet. Ich hoffe nicht auf Wunder … Ich weiß, dass Nazim tot ist. Als er damals mit Fieber in meine Wohnung kam, hatte ich schon so eine Ahnung … Wenn ich daran zurückdenke, wie er am nächsten Morgen in tajwid den Koran rezitiert hat, bin ich mir nicht mehr sicher, ob er es selbst war oder nur sein Geist.« Sie sah auf, die Augen trocken, ihr Blick trostlos. »Vielleicht haben Sie recht. Es ist zu viel Zeit vergangen.«
    Jenny war vor dem scheinbar grenzenlosen Selbstmitleid dieser Frau zurückgeschreckt, aber nicht zum ersten Mal in dem Gespräch erkannte sie dahinter die abgrundtiefe Trauer einer Mutter, die ihr verlorenes Kind sucht. Ein weiterer nervenaufreibender Fall war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, aber ihre Gefühle waren schon auf die Geschichte angesprungen. Die Gesichter der beiden vermissten Jungen standen ihr klar vor Augen, ihre Geister verfolgten sie.
    »Lassen Sie die Unterlagen hier«, sagte Jenny. »Ich schaue sie mir heute Nachmittag an und melde mich dann bei Ihnen.«
    »Danke, Mrs. Cooper«, antwortete Mrs. Jamal leise. Sie nahm das Seidentuch von der Schulter und schlang es sich wieder um den Kopf.
    »Was ist mit Rafi Hassan? Will seine Familie ihn auch für tot erklären lassen?«, fragte Jenny.
    »Wir reden nicht mehr miteinander. Sie haben sich mir gegenüber ziemlich feindselig verhalten. Ihrer Überzeugung nach ist Nazim dafür verantwortlich, was mit ihrem Sohn passiert ist.«
    »Und Ihr Exmann?«
    »Der hat schon vor langer Zeit aufgegeben.«
    Als Jenny Mrs. Jamal zur Tür begleitete, bemerkte sie eine gewisse Unterkühltheit in Alisons Verhalten. In den sechs Monaten, die sie nun zusammenarbeiteten, hatte sie jede Gemütsbewegung ihrer Mitarbeiterin zu deuten gelernt. Alison hatte wie manche Frauen die unheimliche Gabe, ihrem Gegenüber wortlos zu verstehen zu geben, was sie fühlte. In ihrer Reaktion auf Mrs. Jamal spürte Jenny ein Misstrauen, das an unverhohlene Missbilligung grenzte. Als Alison ein paar Minuten später in der Bürotür erschien und ihr mitteilte, dass die Polizei dringend die Obduktionsberichte der Leichen im Kühltransporter brauche, sprach Jenny sie darauf an, dass sie sich über Mrs. Jamal zu ärgern schien.
    Alison verschränkte die Arme. »Ich kann mich an den Fall ihres Sohnes noch erinnern. Damals war ich bei der Kripo. Jeder wusste, dass er und sein Freund ins Ausland gegangen waren, um zu kämpfen.«
    Noch eine Charaktereigenschaft, die Jenny an Alison bemerkt hatte: die sture Beharrlichkeit, mit der sie den Konsens unter ihren Exkollegen für bare Münze nahm.
    »Und wer soll dieser Jeder sein?«, fragte Jenny.
    »Die Leute, die sie fünf Monate lang beobachtet haben. Damals haben sich die Extremisten noch nicht versteckt.«
    Jenny spürte Verärgerung in sich aufsteigen. »Trotzdem hat seine Mutter ein Recht zu erfahren, was aus ihm geworden ist.«
    »Wenn ich sie wäre, wüsste ich nicht, ob ich das wirklich wissen wollte. Außerdem können wir schlecht Zeugen aus Afghanistan herbeizitieren.«
    »Nein. Sie erinnern sich nicht zufällig, wer damals die Observierung leitete?«
    »Das lässt sich vermutlich herausfinden. Erwarten Sie aber nicht, dass Sie allzu weit kommen werden. In diesen Geschichten lauern zu viele Gespenster.« Alison wechselte das Thema. »Was ist mit den Leichen im

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