Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Westen Thailands handeln musste. Am 26 . Mai hatte sich bei einer Boeing von Lauda-Air nahe Bangkok wegen eines Systemfehlers beim Steigflug die Schubumkehr eingeschaltet. Die Maschine stürzte ab, alle 213 Insassen kamen ums Leben. Unter den Passagieren hatten sich hauptsächlich Österreicher, aber auch Deutsche befunden, denn das Flugzeug war auf dem Weg von Bangkok nach Wien gewesen. Ich stutzte. Hatte die junge Staatsanwältin uns nicht erzählt, die Maschine sei auf dem Flug nach Bangkok abgestürzt? Ein Erinnerungsfehler, der zur Schubumkehr für die ganze Geschichte wurde. Denn damit hatte die Tochter der verunglückten Familie nicht drei Nächte vor dem Unglück irgendwas geträumt, sondern – je nach Länge des Urlaubs – ein oder mehrere Wochen vorher.
Ich dachte an Karin Beckers Erkenntnis, dass sich bei all diesen Geschichten über seltsame Ereignisse die realen Daten in vielfältigen Widerspruch zueinander begaben und die Kraft des Narrativen die Regie übernahm.
Doch warum tradierte man in der Familie der jungen Staatsanwältin die Legende vom vorher geträumten Unglück? Am meisten aufgeregt hatte sie sich, als Richard in Zweifel zog, dass die Mutter wirklich die Frage gestellt hatte, ob die Schwägerin keine Angst habe, der Traum der Tochter könne sich bewahrheiten. Und ich wusste auf einmal, was er gemeint hatte: Schuldgefühle! Hinterbliebene neigen zu Schuldgefühlen, wenn ein Angehöriger stirbt. Die Mutter der jungen Staatsanwältin hatte sich auf originelle Weise schuldfrei gestellt. Sie hatte es gesagt, hatte den Bruder mit Hilfe der Schwägerin zu warnen versucht. Ja, hätte man nur auf sie gehört!
»Wie hieß eigentlich diese junge Staatsanwältin?«, fragte ich Richard, als er am Abend bei mir eintrudelte.
»Nadja Locher«, antwortete er. »Warum?«
»Das mit dem Flugzeugabsturz war doch ziemlich anders, als sie es in Erinnerung hat.«
Er nickte nur, langte mir um die Hüften und zog mich an sich. So nah besehen, zerfiel die milchkaffeebraune Iris seiner Augen in goldbraune radiale Streifen mit grünen und rotbraunen Einsprengseln. Man konnte erkennen, dass die Asymmetrie seines Blicks daher rührte, dass sein linkes Augenlid hing, was er auf eine Ohrfeige seines Vaters und eine partiale Lähmung zurückführte.
»Lisa«, sagte er und tippte mir gegen die Stirn. »Ich kann deine Gedanken lesen. Du willst, dass ich Einblick in die Dokumentation der Kalteneck-Experimente verlange.«
»So ungefähr.« Eigentlich wollte ich jetzt, dass wir nach Neuschwanstein fuhren.
»Aber man wird sie mir nicht gewähren, Lisa. Das weißt du. Ich bin durch nichts autorisiert.«
»Schick die Steuerfahndung hin.«
»Dazu gibt es keinen Anlass. Die Buchführung des Instituts ist glasklar und wegen ein paar vielleicht zu viel abgerechneter Klopapierrollen beantragt man keinen Durchsuchungsbeschluss.« Er hatte es sich also auch schon überlegt.
»Und die Stiftung?«, schlug ich vor. »Stiftungen haben einen Briefkasten in Liechtenstein und sind Steuerhinterziehungsmodelle.« Ich knibbelte den obersten Knopf seiner Weste auf.
»Diese nicht. Sie hat ihren Briefkasten in der Elbchaussee in Hamburg-Blankenese.«
»Und wer beaufsichtigt sie?«
»In Hamburg ist es die Justizbehörde. Ich habe mir die Unterlagen bereits schicken lassen.«
Brav. Ich knöpfte mich bis zum Gürtel hinunter.
»Der Satzung zufolge«, sagte er, »leistet die Edmund-Gurney-Stiftung Anschubfinanzierung für Projekte im Bereich der parapsychologischen Forschung, die ohne private Unterstützung nicht möglich wären, insoweit diese eine gewisse Aussicht eröffnen, die Existenz paranormaler Phänomene zu belegen oder zu beweisen.«
Juristische Satzschrauben gingen ihm immer locker von der Zunge.
»Sie schreibt europaweit Forschungsstipendien aus. Im vergangenen Jahr haben sechzehn Wissenschaftler von einschlägigen Instituten einen Antrag gestellt, vierzehn sind bewilligt worden, darunter eine Reise von Dr. Derya Barzani aus dem Institut in Holzgerlingen ins südtürkische Hatay zur Untersuchung eines Reinkarnationsfalls bei den dort lebenden Aleviten.«
»Einer Wiedergeburt? Schräg!«
»Ja, anders als die Moslems glauben die Aleviten wie die Inder an die Seelenwanderung. Die Rechenschaftsberichte des Stiftungsvorstands an die Stiftungsaufsicht sehen über die Jahre immer ähnlich aus. Fünf Millionen Vermögen, Ausgaben in Höhe von rund anderthalb Millionen, denen Einnahmen aus Aktienfonds und einige kleinere Spenden
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