Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
die anderen. Es begann 1971 . Da sah eine gewisse María Gómez in ihrem Haus in dem kleinen andalusischen Dorf Bélmez ein Gesicht im Zementboden ihrer Küche. Weil sie Fieber hatte, hielt sie es für eine Halluzination. Doch das Gesicht am Boden wurde danach immer deutlicher. Es tauchten weitere Gesichter auf, auf dem Boden, an den Wänden. Sie sahen aus wie mit, sagen wir, dunkler Kreide auf Beton gezeichnet. Ließen sich aber nicht wegwischen. Sehr poetisch. Ein bisschen wie gotische Gesichter aus alten Inkunabeln. Bald blühten sie überall, Hunderte. Man trug den Betonboden ab und fand unter dem Haus zwei Skelette ohne Kopf. Das ganze Dorf, sagte man, sei auf einem alten Friedhof gebaut worden.«
Richards Aufmerksamkeit hatte er gewonnen. »Irgendwer im Dorf wird das noch gewusst haben.«
»Ich glaube nicht. Solches Wissen geht schnell unter. Nach drei Generationen ist es weg. Aber vielleicht bleibt es ja in den Neuronen drin, also unbewusst, vielleicht wird solches Wissen sogar vererbt. Wer weiß. Jedenfalls haben sie den Estrich neu gemacht und, sagen einige, mit einer Acrylschicht versiegelt.«
»Weiß man das denn nicht genau?«, fragte Richard.
»Es ist ein Phänomen, das es seit vierzig Jahren gibt«, antwortete Finley. »Da erzählen viele Leute aufgeregt, was alles unternommen wurde, um zu beweisen, dass es sich hier um einen echten Zauber handelt. Das meiste ist Fabel. Ich war nicht dabei, als der Boden versiegelt wurde. Es sollen in ihm neue Gesichter entstanden sein. Eines davon sah aus wie der Generalísimo Franco auf einer Briefmarke aus den Neunzigern. Wissenschaftler der Asociación Española de Investigaciones Parapsicológicas machten Röntgenbilder, angeblich auch chemische Untersuchungen. Es heißt, man fand keine Farben, keine Stickstoffverbindungen. Der Chef der Asociación vertrat die Ansicht, die dunklen Sandkörner im Zement würden sich mit Hilfe geistiger Kräfte zu Linien und Gesichtern gruppieren. Wie das physikalisch möglich sein soll, dafür hat er keine Erklärung geliefert. Übrigens hat Hans Bender María einem Lügendetektortest unterzogen und festgestellt, dass sie ehrlich sei. Aber es muss ja nicht sie selbst gewesen sein, die diese Bilder fabriziert hat, nicht wahr? Sie glaubte, sie würden nach ihrem Tod verschwinden. Sie verstarb 2004 , doch die Gesichter blieben. Die Bürgermeisterin des Dorfs wollte das Haus kaufen und ein Museum daraus machen, doch die Erben verlangten zu viel Geld dafür. Da erschienen im Geburtshaus von María, das noch billig zu haben war, auf einmal auch Gesichter.«
Ich musste lachen. »Eins zu viel, schätze ich.«
»Absolut! Das fand auch Héctor Quicio. Er hat zeigen können, dass man diese Zeichnungen auf Beton ganz gut mit einer Mischung aus Öl und Wasser hinbekommt. Wischt man die Böden, wie es in diesem Hause anscheinend üblich war, regelmäßig mit leicht öligem Wasser, werden sie immer schöner, die Gesichter. Tageslicht lässt sie nachdunkeln, weil das Öl oxidiert. So hatte Spanien vierzig Jahre lang das schönste und friedlichste Wunder der Parapsychologie, nun hat es den Betrug des Jahrhunderts.«
»Aber es gibt doch Institute, die chemische Proben ziehen können«, sagte Richard verwundert. »In Zeiten des Elektronenmikroskops sind das doch Sachen, die nicht rätselhaft bleiben müssen.«
»Aber es kostet Geld. Und es fehlt das ernsthafte Interesse. Für Physiker und Chemiker ist es Betrug und nicht der Rede wert, für die, die glauben, ist es ein übersinnliches Phänomen, das nicht analysiert werden muss. Wenn Sie sich mit dem Thema länger beschäftigen, Richard, werden Sie feststellen, dass beide Parteien immer alle Register ziehen und verkünden, alle Beweise auf ihrer Seite zu haben. Auch wissenschaftliche Ergebnisse können verschieden gedeutet werden. Man unterwirft sie der Gesamtinterpretation einer Lage. Was passt, bleibt, was nicht passt, wird nicht beachtet. Héctors Chef hat in einem Gutachten erklärt, die Erscheinungen seien übersinnlicher Natur.«
»Also hat er Héctor rausgeworfen?«, fragte ich.
»Davon weiß ich allerdings nichts.«
»Außerdem«, rief Derya noch einmal von ihrem Stuhl, »habe ich hier was gefunden. Im Book of Kells. Das müsst ihr euch anschauen!« Sie stand mit ihrem Buch auf und trug es zu Richard, der inzwischen wieder im Sessel saß. »Das sieht aus wie dieses Steinmetzzeichen im Gewölbe, finden Sie nicht?«
Aha, sie siezte ihn noch.
Was alle wussten, nur ich nicht: Das Book
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