Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
hinweisen, dass er weder mich noch sie zu irgendeinem Irrsinn investigativer Art angestiftet habe, aber er sagte es nicht. Natürlich nicht.
»Ich denke«, ergriff Finley freundlich lärmend das Wort, »morgen ist auch noch ein Tag. Sagt man nicht so? Und der Heilige Gral läuft uns nicht davon.« Er lachte.
Derya legte das Buch zurück auf den Lesetisch und griff nach ihrer Handtasche. »Gibt es hier in der Nähe ein Hotel?«
»Ihr geht nicht ins Hotel«, rief Finley. »Ihr schlaft bei Milly. Sie bietet Bed and Breakfast an. Das ist gleich um die Ecke. Ich rufe sie schnell noch an.«
Die arme Frau war schon im Bett gewesen und empfing uns in einem blauen Morgenmantel aus schimmerndem Chiffon mit roten und violetten Blumen. Sie zeigte uns zwei Zimmer, das eine so plüschig wie das andere. Der Bettüberwurf aus diesem glänzenden Chintz mit Volants und wildem Blumenmuster in Farbrichtung Hellblau, die Kissen in Richtung Hellgrün mit Rüschen, Volants an den Sesselkanten, geraffte Vorhänge aus fliegendem Chiffon mit Bommelkordeln, floral gemusterte Tapeten und Teppiche, rosafarbene Vasen mit Rosenmuster, hellgrüne Lampenschirme mit Blattmuster. Ich muss frühzeitig das Bewusstsein verloren haben.
26
Zum Frühstück gab es Black Pudding, Sausages und Kippers, was auf Deutsch barbarisch klingt: eingedicktes Blut, Würstchen und Bückling. Die anderen Elemente waren uns aus unserer Zivilisation bekannt: Spiegeleier, weiße Bohnen, gebackener Schinken, gegrillte Tomaten, Weißbrot und Tee. Ich frühstücke selten und kenne von daheim nur die von Richard dagelassenen Croissants. Aber was Milly uns auftischte, verlangte unbedingt Anerkennung und laute Beifallsbekundungen. Und der Hunger entstand beim Essen. Und was für einer.
»Ist das Haggis?«, erkundigte sich Derya schrill und deutete auf einen Klacks Schlamm auf ihrem Teller.
Richard grinste, während ich schaufelte, und nannte die Zutaten: Herz, Leber, Lunge und Nierenfett vom Schaf, Zwiebeln und Hafermehl im Schafsmagen zubereitet und ordentlich gepfeffert. Er war unerschrocken, was regionale Essgewohnheiten betraf. Als junger Mann hatte er sein Leben den riskanten Bedingungen in Südamerika anvertraut. Er war tief verborgen in seinem Herzen oder in seiner Erinnerung ein Abenteurer, auch wenn man es ihm heute nicht mehr ansah.
Wir saßen noch beim Essen, da kam Finley mit der Nachricht, dass aus unserem Rückflug heute wohl nichts werden würde. »Die haben Computerhavarie am Flughafen. Teile des Internets sind zusammengebrochen.«
Wir schauten uns an.
»Ich habe aber auch eine gute Nachricht!«, fuhr Finley fort. »Ich habe in der Nacht noch ein bisschen gekramt. Und, hurra, ich habe in einem Ordner die Kalteneck-Liste gefunden. Ich hatte sie mir mal ausgedruckt. Wenn Sie fertig sind mit Frühstücken, Richard, können wir nachher gleich …«
Richard war bereit, sein Frühstück sofort zu beenden. Aber Derya schob Finley ihren Teller hin.
»Und«, plauderte Finley weiter, während er in ein Würstchen biss, »ich … hm … habe … hmhm … eine E -Mail bekommen … hmhmmm … von Héctor.«
»Ach!« Mir war plötzlich speiübel.
Finley schluckte. »Ihr werdet es nicht glauben, er ist …«, Finley schnurpste sich einen Streifen Frühstücksspeck in den Mund, »er ist auf Iona.«
Auf einmal erdrückte mich der gemusterte Plüsch des Diningrooms, der Nippes auf den Regalen, die Lämpchen, Deckchen, Schälchen in kräftigen Farben auf Basis von Ocker, Blau und Grün. Es ging nicht anders, ich musste mir eine Zigarette anstecken. »Was macht er denn dort?«
»Er untersucht einen Spuk.«
Richard zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Und wieso schreibt er Ihnen?«
»Er will sich mit mir treffen. Übrigens erwähnt er, dass eine Stuttgarter Journalistin ihm geschrieben habe wegen der Kalteneck-Akten. Aber er hat das Passwort nicht, schreibt er. Ich habe die E -Mail ausgedruckt.« Finley griff sich ins Cordjackett und förderte ein gefaltetes Blatt zutage.
Der Brief stammte von Héctors Instituts-Mailadresse. Er war auf Englisch verfasst und mit »Hector« unterschrieben. Ohne Akzent. Darin stand, er sei seit drei Tagen auf Iona. Auf dem Reilig Odhráin – das war der Heilige Friedhof, wie uns Finley übersetzte – seien keltische Zeichen und das Quadrat der Kuldeer auf Steine und in die Erde graviert erschienen.
Richard ließ sich im Stuhl zurückfallen.
Derya sagte: »Aber das ist doch …«
»Und nachts wurden
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