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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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of Kells war der kostbarste Gegenstand der westlichen Welt, so jedenfalls hatte man es im Jahr 1007 gesehen, als es aus der Kirche von Kells gestohlen wurde. Es war aber längst wieder da und lag in Dublin. Dreihundertvierzig Pergamentblätter, über und über bedeckt mit bunten Bildern und zarten und reich verschlungenen Ornamenten.
    »Folio 124  …«, sagte Derya. Sie war auf einmal mit Eifer dabei, sie schob sich die Haare hinters Ohr, ihr Gesicht leuchtete, ihre Augen funkelten, ihre schönen Lippen waren halb geöffnet, ihr Blick lag vertrauensvoll auf Richard.
    Das Foto im Buch zeigte eine Seite, die mit Treppenmustern bedeckt war. Wie eine Mischung aus Maya und Jugendstil, fand ich. Im oberen Teil hing irgendetwas, das aussah wie ein zweiköpfiger Pfau mit zusammengefaltetem Schweif. Die untere Hälfte wurde beherrscht von zwei mit den Spitzen zueinander stehenden Dreiecken, in deren Balken ein Text stand, den ich nicht lesen konnte. Quer darüber lag ein waagrechter Balken, ebenfalls mit Text. Das alles war mit reichlich Gold ausgestattet, wobei Richard klarstellte, dass die Mönche, die diese Illustrationen gefertigt hatten, kein Gold, sondern Arsenblende verwendet hatten. Und für das Rot die Kermesschildlaus, deren Farbstoff auch Campari rot färbte.
    Igitt! Ich trinke nie wieder Campari.
    »Tunc crucifixerant Xpi cum eo duos latrones«, buchstabierte Richard.
    Ich konnte kein Latein, aber latrones verstand ich. Auf Spanisch sagte man ladrones zu Dieben.
    »Dann kreuzigten sie …«, übersetzte er. »Nein, besser: Dann wurden mit ihm zwei Diebe gekreuzigt.«
    Auch mir war klar, dass es hier um die Kreuzigung Christi ging und um die beiden Verbrecher, die links und rechts von ihm an Kreuzen hingen und ebenfalls sterben sollten. Ihre Ängste hatten mich schon als Kind beschäftigt. Der eine spottete, der andere bereute. Beide fühlten sich einig mit der Ordnung und nicht im Stich gelassen, ganz anders als der in ihrer Mitte. Er hielt sich für völlig unschuldig. Sie wussten, gegen welche Regel sie verstoßen hatten, Jesus dagegen kam bis zu seinem Tod nicht drauf, dass keine Gesellschaft sich einen fundamentalistischen Kritiker gefallen lässt. Deshalb stellte sich ihm wie jedem andern auch die große Frage des Individuums im Angesicht des Todes: »Warum ich?« Aber er fand die Antwort nicht.
    »Hm«, machte Richard. »Die Dreiecke hier stehen mit den Spitzen zueinander.«
    »Aber da, Richard, hier im Seitenband, da sind solche Quadrate mit Querstrich wie im Gewölbe. Dachte ich mir doch, dass es ein keltisches Motiv ist.«
    Richard holte seine Lesebrille aus dem Jackett und beugte sich über das Bild. Finley trat dazu. Er trug sein Leseinstrument schon auf der Nase.
    Ich setzte mich an seinen Computer und las derweil im Netz nach. Es ging zwar, aber lief wie in Zeitlupe. Seiten mit vielen Bildern ließen sich gar nicht öffnen. Doch so viel erfuhr ich: Das Book of Kells stammte eigentlich gar nicht aus dem irischen Kells, sondern war von irischen Mönchen auf der Insel Iona hergestellt worden.
    Iona? Eine Insel der Inneren Hebriden an der Westküste Schottlands. Grabstätte von schottischen Königen. Auch Macbeth war dort beerdigt worden. Ich staunte. Den hatte es also tatsächlich gegeben?
    »Dann auf nach Iona«, sagte ich.
    Die drei blickten mich verstört an.
    Richard nahm die Lesebrille ab. »Wozu?«
    Wenn er so fragte, in diesem nachsichtig gequälten Ton, dann bürstete mich das auf Krawall. Aber er sah so erschöpft aus. Und neben ihm leuchtete die schöne Derya.
    »Das Book of Kells ist dort hergestellt worden. Aber wenn du meinst, dass das Zeichen in den Gewölben ohne Bedeutung ist …«
    Richard zog kaum merklich die Brauen zusammen. »Nein, das meinte ich nicht, Lisa.«
    »Was dann?«
    Derya schaute mich halb lächelnd an. Finley tat zerstreut. Stritten wir uns? War das jetzt das, was ich bei ermüdeten Paaren so oft beobachtet hatte? Die Erschöpfung vor dem finalen Aufbäumen. Richard und ich kabbelten uns ständig, ich provozierte ihn, er hielt kampflustig gegen. Ich stach, er parierte. Bisher hatte ich geglaubt, es gefalle ihm, er brauche das zur Belebung seiner schwäbischen Leisetreterei.
    »Ich meinte«, sagte er geduldig, »es ist zwölfhundert Jahre her, dass dieses Buch gefertigt wurde. Ich glaube nicht, dass es für uns von Bedeutung ist.«
    Derya sah enttäuscht aus. »Aber warum blättere ich dann wie nicht gescheit?«
    Richard sah aus, als wolle er leicht gereizt darauf

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