Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Lichterscheinungen beobachtet«, fuhr Finley fort. »Er schreibt, wenn ich es zeitlich irgendwie einrichten kann, würde er sich freuen, wenn ich käme und ihn mit meinem Fachwissen unterstützte. Eigenartig nur, dass ich gar nichts davon weiß. Normalerweise wenden sie sich an mich oder an mein Institut, wenn es irgendwo in Schottland spukt.«
Heute, im Rückblick, erscheint es kaum begreiflich, dass wir so gar nicht merkten, worauf es hinauslief. Aber man konnte es sich eben nicht vorstellen. Beim Frühstück mit Kippers und Haggis ahnte höchstens Richard etwas von der perversen Macht, die sich über uns hermachte, um, nachdem sie mit uns fertig war, den Globus zu überziehen.
»Wie weit ist es denn bis Iona?«, erkundigte ich mich.
»Fünf Stunden im Auto«, antwortete Finley.
»Wenn unser Flugzeug heute sowieso nicht geht …«
»Dann sollte ich aber dringend vorher noch ein paar Besorgungen machen«, sagte Derya.
Sie war im Gegensatz zu mir eine Frau, die Wäsche, Slipeinlagen, Nylonstrümpfe, einen sauberen Rock brauchte und Jeans, wenn es aufs Land ging. Die Männer schwiegen. Gegen den Wunsch einer Frau, Läden zu besuchen, durfte man nicht andiskutieren, wenn man keinen Eklat provozieren wollte. Richards Distanz zu weiblichen Gedankengängen war so groß, dass er nicht einmal fragte, was Derya zu besorgen haben mochte.
Es gab ihm und Finley außerdem Zeit, ins Institut zu gehen und sich die Liste mit den Klarnamen der Kalteneck-Experimente anzuschauen. Währenddessen klärte ich mit Hilfe von Millys Festnetztelefon, was mit unseren Flügen war.
Um zehn saßen wir in Finleys altem MG Rover und fuhren Richtung Westen aus Edinburgh hinaus. Die Autobahn war nur eine kurze Illusion, dann rollten wir auf einer Landstraße durch grüne Hügel mit verlorenen Ansiedlungen und unergründlichen Lochs.
Derya saß vorn neben Finley, Richard neben mir im Fond. Er ließ mit keinem Wimpernschlag durchblicken, ob Juri Katzenjacob auf der Liste der Kalteneck-Experimente stand.
Finley erzählte von seiner Indienreise. Sie hatte nur dem Zweck gedient, den mächtigsten Tantrik des Landes zu einem Zweikampf herauszufordern. »Tantra kennt man bei uns als ausdauernde Sexualpraktiken«, erklärte er. »Aber die Inder glauben, dass Tantra schwarze Magie ist. Man kann damit Menschen schaden, sie sogar töten. Allein mit Geisteskraft, mit Beschwörungen und Zaubersprüchen, so wie Harry Potter: Petrificus totalus!« Finley lachte vergnügt, während es mir kalt den Rücken hinunterlief.
Er hatte über Sanal Edamaruku, den Präsidenten von Rationalist International , den Tantrik Devendra Yasch aufgefordert, seine Kräfte vor laufender Kamera in einer Fernsehshow zu beweisen. Der Magier hatte behauptet, er könne jeden beliebigen Menschen innerhalb von drei Minuten durch Magie töten und stehe im Auftrag höchster Politiker.
»Tu es, habe ich zu ihm gesagt. Töte mich! Aus drei Minuten wurden drei Stunden, und ich blieb am Leben.«
Finley kicherte, die knochigen Hände an den Lenker geklammert. Richard krampfte jedes Mal, wenn der Wagen einen Lachschlenker machte.
»Die Sendezeit war zu Ende, Devendra murmelte, schwitzte und zauberte. Ich habe mich köstlich amüsiert. Devendra behauptete, ich müsse unter dem Schutz eines starken Gottes stehen. ›Ich bin Atheist!‹, habe ich gesagt. Ich habe ihm Revanche angeboten. Einen Monat später haben wir wieder eine Show gemacht. Die Presse hat im Vorfeld berichtet. Achtzehn Millionen Inder saßen vor dem Fernseher. Konzentrieren können die sich, die Jungs, das muss man ihnen lassen. Ganz großer Hokuspokus. Er hüpfte, er schrie, er schwitzte, er schüttelte mich, beinahe hätte er mich erwürgt. Stellen Sie sich vor, ich hätte wirklich live im Fernsehen wahnsinnig und schreiend unter Krämpfen mein Leben ausgehaucht. Nach drei Stunden schlich Devendra als gebrochener Mann von hinnen. Es war genial. Mein Freund Sanal Edamaruku kämpft schon seit Jahren gegen Aberglauben. Wir wollten den Bann brechen. Und er sagt, es sei uns gelungen. Viele Menschen in Indien haben nun weniger Angst. Wisst ihr, Tantriks agieren so selbstbewusst, sie treten so sicher und furchteinflößend auf, dass selbst Menschen unsicher werden, die überzeugt sind, dass nichts dran ist an schwarzer Magie. Man weiß es ja eben doch nicht so genau. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Zusammenbruch aus Angst.«
»Und Sie waren sich immer sicher?«, fragte ich.
Finleys enzianblaue Augen
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