Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sie. »Jetzt hat jeder hier die Zeitung gelesen. Außerdem bringen sie es in den Nachrichten.« Sie deutete auf den Fernseher, der zwischen Mikrowelle und Backofen stand. In einem Sender mit Nachrichtenlaufband befragte eine blonde Moderatorin gerade einen Mann über die Möglichkeiten, per Geisteskraft das Internet lahmzulegen.
»Ah!«, rief Finley. »Haben sie den alten John wieder ausgegraben. Der wettert schon seit Jahren gegen den Rationalismus und verkündet, dass eines Tages der große Psi-Meister kommt und uns das Fürchten lehrt. Die Geisterwelt schlägt zurück und solche Dinge.«
»An so etwas glaube ich nicht«, erklärte Heather. »Und mir tun die Leute leid, die sich dadurch ängstigen lassen. Übrigens weiß ich, was wir machen.« Zufällig war sie Herrin über den Fundus einer Laienspieltruppe, die im Sommer auf den Hebriden den Sommernachtstraum und Macbeth aufführte. »Aber nicht in historischen Kostümen!«, betonte sie. »Sondern in zeitgenössischen, wenn auch traditionellen.«
Wir begaben uns unters Dach in einen großen Raum voller Kleider auf Kleiderstangen, mit großem Spiegel und einer Umkleidekabine. Mit geübtem Auge für Typus und Kleidergröße gab Heather die Kostüme aus. Derya überreichte sie ein hellblaues Kleid mit Hut im Stil des Sehen-und-gesehen-Werdens in Ascot. Für mich hatte sie ein schwarzes Schlauchkleid mit Pelz-Bolero und Lacklederstiefel, die bis übers Knie reichten. »Aber ein bisschen Farbe müssen Sie dazu schon auflegen in Ihrem Gesicht. Dann sieht man auch die Narben nicht so.« Bei Finley schwankte sie zwischen grauem Cut mit Stock und Bowler und altenglischem Landjunker mit Reitstiefeln und entschied sich für Letzteres. Bei Richard wiederum zauderte sie keine Sekunde. Liebevoll lächelnd überreichte sie ihm das, was er am meisten fürchtete: den Kilt. »Das ist der Tartan des Campbell-Clans, zu dem auch unsere Dukes of Argyll gehören.«
Richard schauderte. »Nein, das …«
»Oh, er wird Ihnen wundervoll stehen. Viele gibt es nicht, die den Kilt tragen können, glauben Sie mir. Aber Sie haben genau die richtige Figur. Nicht zu groß, ordentliche Schultern für das Jackett, schlanke Hüften, und Sie können Knie zeigen. Ich finde, ein Mann wird erst wirklich zum Mann, wenn er den Kilt tragen kann.«
»Oh, ja!«, rief Derya hingerissen. »Das musst du anziehen, Richard. Das sieht bestimmt umwerfend aus.«
Er kämpfte auf verlorenem Posten. Gegen Heathers Autorität und Deryas Wünsche kam er nicht an. Wenig später stand vor uns ein grimmiger Highlander in weißem Hemd mit Fliege unter dem schwarzen Argyll-Sakko mit Silberknöpfen und im blaugrünen Karorock mit Gürtel und Seehundfelltasche. Die strammen Waden steckten in zweimal umgeschlagenen Wollstulpen, die von beflaggten Gummibändern gehalten wurden. Und ins rechte Strumpfband schob Heather ihm in karierter Hülle den Sgian Dhu, den schwarzen Dolch, ein durchaus brauchbares stämmiges Messer. An den Füßen trug Richard schwarze Schuhe, die man befremdlicherweise bis über die Knöchel hoch schnürte.
Derya hatte die Hände vorm Kinn zusammengeschlagen und lächelte versonnen. Heather ging noch einmal vor Richard aufs Knie, um die Kiltnadel besser zu platzieren. Finley grämte sich, denn er besaß selbst einen Kilt und hätte ihn gern getragen. Und mir tat es grausig leid, dass ich vorhin den Schottenrock zu Hilfe genommen hatte, um Richard wirkungsvoll zu verletzen.
Unsere unansehnlichen Originalkleider versenkten wir in einem Jägerrucksack aus Heathers Fundus, den Finley schulterte. Mit Richards Kreditkarte bezahlten wir Bett und Frühstück und eine großzügige Leihgebühr für die Kostüme – allein Richards war locker 800 Pfund wert –, und um halb elf verließen wir das Haus und wanderten die Straße entlang, am Ferry Shop vorbei in Richtung Pier.
Und tatsächlich drehte sich niemand nach uns um und starrte uns offenen Maules hinterher. Keiner wunderte sich über einen Schotten im Rock, der mit einem Landjunker, zwei bunten Vamps und einem Dackel die Straße entlangschlenderte.
34
Dass wir nicht einer gemeinschaftlichen Hysterie erlegen waren, zeigte sich, als auf dem Parkplatz am Straßenrand Finleys Wagen explodierte. Es war keine große Explosion, aber der Rover brannte schnurzelnd ab. Wir hatten es von oben beobachtet. Ein gehetzter Iona-Tourist, der die Fähre noch erreichen wollte, hatte etwas schwungvoll eingeparkt und dabei den Rover gestreift. Der wackelte sichtbar, und
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