Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
einer keltischen christlich-orthodoxen Kirche an. Sie versuchen nach den alten Regeln des ersten Abts der Céli Dé zu leben, dem heiligen Maelrúain. Er hat 755 das erste Kloster in Tallaght gegründet.«
»Wo ist das?«
»Das ist heute ein Vorort von Dublin. In dem Kloster lebten Frauen und Männer gemeinsam, sie waren verheiratet. Sie haben sich um die Armen gekümmert, sie hatten besondere Gesänge, und sie haben viel gefastet und gebetet. Die Gruppe aus New York hat die alten heiligen Orte besucht. Und im Rahmen dessen wollten sie in den Gewölben den Raum sehen, wo sich das Zeichen der Kuldeer befindet.«
»Aber die Kuldeer gibt es doch seit dem zwölften Jahrhundert gar nicht mehr«, bemerkte Richard. »Sie wurden von der römisch katholischen Kirche assimiliert.«
»So heißt es offiziell. Aber es gibt auch Leute, die sagen, einige der ursprünglichen Céli Dé oder eben Kuldeer hätten überlebt, sie hätten sich fortgepflanzt und dabei ihren Glauben und ihre Riten erhalten, und es hätte immer ein geheimes Kloster gegeben, ein virtuelles Kloster gewissermaßen, denn eine Kirche oder ein Kloster gibt es nicht mehr. Es heißt, so haben mir die Amerikaner erklärt, sie hätten sich über die Jahrhunderte an wechselnden geheimen Orten getroffen, zeitweise auch in diesem Raum in den Edinburgh Vaults. Bis die ganze Gruppe überfallen und ermordet wurde, elf Menschen. Und als der Letzte sein Leben aushauchte, habe sich das Zeichen der Kuldeer in den Stein gebrannt.«
»Wieso gerade elf?«, fragte ich mich laut und dachte an die Hendeka, die Elfmänner der athenischen Gerichtsbarkeit.
»Es heißt, es hätten immer elf Priester sein müssen«, antwortete Emma, »um ein virtuelles Kloster zu bilden. Oder die Gemeinschaft wird von elf Männern geführt. So genau weiß ich das nicht.«
»Woher wissen Sie überhaupt etwas darüber?«
»Es gibt Internetseiten darüber. Ich habe mich damit beschäftigt, nachdem ich mit den Céli Dé aus Amerika da unten war. Sie nennen das Zeichen übrigens Gnomon. Das kommt wohl aus dem Griechischen.«
»Der Schattenzeiger bei einer Sonnenuhr«, murmelte Richard.
»Ja, richtig! Ich erinnere mich. Sie haben mir das erklärt. Früher waren das in die Erde gesteckte Pfähle mit einer Spitze, nicht wahr? Die Diagonale in dem Zeichen ist der Gnomon, er steht für Astronomie und Wissenschaft überhaupt. Die beiden Winkel stellen zweimal die Dreifaltigkeit dar, einmal nach oben in den Himmel weisend und zum andern gespiegelt in die Unterwelt, zum Zeichen, dass Gott alles umfasst, das Gute und das Böse. Es gibt einige, die vertreten die Ansicht, dass den Kuldeern heute Männer und Frauen aus den allerhöchsten Kreisen angehören, Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer. Beispielsweise soll Michael Faraday einer gewesen sein.«
Richards und mein Blick trafen sich. Ich wusste, dass er wie ich an die Anstecknadel aus Rosenfelds Schreibtisch dachte. War Rosenfeld also Kuldeer gewesen? Gab es sie noch? Irgendwo?
»Es ist eine Geheimgesellschaft, die im Hintergrund die Welt regiert«, erklärte Emma mit dem Glitzern derjenigen in den Augen, die hinter dem großen Geheimnis des Weltkreisels einen Anstoßer vermuten. Das vermutet meine Mutter auch, aber sie glaubt, es sei Gott, der mit Gebeten zu erweichen sei.
»Und … äh …«, fragte ich, »woran spürt man das?«
»Was?«
»Dass die Kuldeer im Hintergrund die Welt regieren. Woran merkt man das? Es gibt ja auch andere, die das tun: die Banken, die Rüstungsindustrie, die Drogenbosse, die russische Mafia, die italienische, die chinesische und so weiter. Das spürt man. Was zeichnet jetzt aber die Kuldeer aus? Was ist ihr Ziel?«
»Ach so. Das weiß man nicht. Ich habe jedenfalls nichts darüber gefunden. Vielleicht wollen sie die Welt gerechter machen, die Armut beseitigen.«
»Dann gibt es sie nicht«, sagte ich. »Denn davon merkt man nun wirklich gar nichts.«
Derya lachte. »Das ist wahr.« Es war das erste Mal, dass sie eine Bemerkung von mir nicht bescheuert fand.
Wir passierten den Abzweig zum Torosay Castle, gleich darauf tauchten die ersten Häuser am Rand der schmalen Straße mit den Ausweichbuchten auf. Wir hatten Craignure erreicht. Der Ort bestand aus nicht viel mehr als ein paar weißen Häusern an der Wasserkante, einer Tankstelle, einer Kirche und dem Fähranleger.
»Okay«, sagte Richard. »Wir werden Ihnen erzählen, wer wir sind und was wir hier wollten. Wir sind nämlich tatsächlich auf der Suche nach …
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