Totenstimmung
für Jennes das Sinnbild allen Leidens sein. Überleg mal: Sein Vater hat in seinen glücklichsten Augenblicken Mundharmonika gespielt. Jennes hat ein ausgeprägtes Verhältnis zu Musik, Frank. Du bist in doppelter Hinsicht der einzig geeignete Retter für ihn.«
»Ich kapier das nicht.« Ihm schwirrte der Kopf. Er war ein einfacher Kriminalhauptkommissar und kein Psychotherapeut. Andererseits klang es so logisch, wie Viola es ihm erklärte.
»Jennes ist krank, vergiss das nicht. Du kannst diesen Mann nicht mit normalen Maßstäben messen.«
»Was soll ich bloß machen, Viola?«
Sie ahnte, dass er etwas anderes meinte. Sie hatte schon die ganze Zeit gewusst, warum Frank gekommen war. »Ich rufe dir jetzt ein Taxi, Bulle.« Sie lächelte.
Ihr Blick ist voller Zärtlichkeit, dachte Frank und leerte die Flasche. Unschlüssig stellte er sie neben ihre gemeißelten Sätze.
»Led Zep gibt es das nächste Mal. Vielleicht.« Sie warf ihr halblanges Haar in den Nacken. Dabei gab ihre geöffnete Bluse den Blick auf ihr T - S hirt frei: eine Hand mit Victory-Zeichen, die Konturen ausgefüllt mit dem Union Jack.
Hendrik Jennes sah sich um, bevor er die Stühle einlud. Der Lieferwagen stand schon seit zwei Tagen gegenüber auf dem Parkstreifen. Wenn die Bullen meinten, er hätte nicht längst bemerkt, dass schon zweimal der Pizzaservice vor der Schiebetür gestanden hatte, waren sie entweder unfähig, oder sie wollten, dass er sie sah.
Er war sowieso vorsichtig. Ob sie nun vor seinem Geschäft standen oder nicht. Als er bemerkte, dass die Stühle beim Schließen der Wagentür zu weit vorstanden, drückte er sie mit einer unbeherrschten Bewegung ins Wageninnere. Dass die Lehne des Stuhls dabei über den Wagenboden schrammte, war ihm egal. Beim Wegfahren drehte er das Seitenfenster des Lieferwagens herunter und den CD -Player laut auf. Maria Callas übertönte das Motorengeräusch.
Heinz-Jürgen Schrievers hatte endgültig jegliches Zeitgefühl verloren. Er hatte aufgehört, auf Gilleßens Rückkehr zu warten. Schrievers wusste, dass er sterben würde. Und er würde langsam sterben, verdursten und verhungern. Gilleßen war ein Teufel.
Wie hatte er diesem Mann nur vertrauen können? Hatte es daran gelegen, dass er in ihm einen Leidensgenossen gefunden zu haben glaubte, der wie er Sport machen musste, um gesund zu bleiben? Wie war Gilleßen auf ihn gestoßen? Er musste ihn über Wochen beobachtet haben.
Der Archivar war müde. Nur mit großer Anstrengung konnte er verhindern, dass er einschlief. Oder schlief er schon? War er überhaupt noch bei Bewusstsein? Wie spät war es wohl?
Er hatte sich geschämt, als er pinkeln musste, aber das Wasser an seinen Waden hatte ganze Arbeit geleistet. Der Drang war mit der Zeit unerträglich geworden. Schließlich hatte er es einfach laufen lassen. Immerhin ein Zeichen, dass ich noch lebe, hatte er mit einem Rest Sarkasmus gedacht.
Er atmete nur noch schwach. Sein Magen hatte längst aufgehört zu knurren. Nur der Durst wurde immer unerträglicher. Er stand mit den Füßen im Wasser, aber er hatte keine Chance auf einen winzigen Schluck. Er konnte sich keine schlimmere Folter vorstellen.
Er hatte überlegt, sich zur Seite kippen zu lassen, aber den Gedanken wieder verworfen. Das Wasser würde sich lediglich über den Fußboden verteilen. Je mehr er sich mit seinem Durst beschäftigte, umso unerträglicher wurde er. Heinz-Jürgen Schrievers versuchte, sich wegzuträumen. Er wollte auf den Bauernhof seiner Eltern zurück. Er roch das frisch geschnittene Gras, durch das er mit seinen Freunden oben unter dem Scheunendach getollt war. Er hatte das satte Grün der niederrheinischen Wiesen greifbar nah vor sich, meinte, den warmen Atem der Kühe in seinem Gesicht zu spüren. Er hatte den Geruch der frisch gestärkten Schürze seiner Mutter in der Nase, die ihm übers Haar strich. Und er spürte die schwielige Hand seines Vaters, wenn er wieder einmal seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Und da war seine Großmutter, an deren warme Stimme und gütiges Lächeln er sich kaum noch erinnerte. Sie war nach seiner Mutter der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen. Mit ihr an seiner Seite konnten ihm die Kinder im Dorf nichts anhaben. Sie hatten manches Mal nur Spott und Häme für seine Pfunde übrig gehabt.
In den ersten Jahren seiner Ausbildung hatte er sich eine passable Figur antrainieren können. Er hatte es allen zeigen wollen. Sie hatten tatsächlich Respekt vor ihm gehabt.
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