Totenstimmung
antwortete.
»Das ist eine lange Geschichte, Tommy.« Sie seufzte. Tommy würde sie nicht verstehen. Wie auch?
»Ich mag Geschichten. Erzähl mir eine Geschichte.« Tommy sah Lisa erwartungsvoll an. Sein Blick hatte etwas Schelmisches.
»Oh, das geht leider nicht, Tommy. Ich muss nach Hause und kochen.« Der Stuhl passte so gerade auf den Sitz.
»Horst erzählt auch immer Geschichten. Horst hat auch eine Schwester.«
Horst? Wer das wohl sein mochte? »Das ist doch schön, Tommy.«
»Aber die kommt nicht mehr.«
Lisa richtete sich auf. »Sie kommt nicht mehr?«
Tommy nickte.
»Haben sie Streit?«
Tommy schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Na, dann wirst du sie sicher bald wiedersehen.«
Er schüttelte erneut den Kopf.
»Nein?«
Tommy schob sich erneut die Brille auf die Nasenwurzel. »Horst sagt, Tote kommen nicht zurück. Sie sind im Traumland. Im Traumland ist es schön.«
Lisa legte ihre Hand auf Tommys Arm, zog sie aber sofort wieder zurück. »Das tut mir leid, Tommy.«
Tommy lachte. »Ich will auch ins Traumland. Meine Mama soll mich hinbringen. Im Traumland gibt es alles. Viele Tiere, große und kleine, Fische, Vögel, Pferde, Schmetterlinge. Schmetterlinge bringen Träume, sagt Horst.«
»Aha. Ich finde Schmetterlinge auch schön. Aber ich habe schon lange keine mehr gesehen.« Lisa war ratlos.
»Sie sind immer in den Träumen. Mama sagt das auch.«
»Arbeitet Horst auch hier?«
Tommy schüttelte entschieden den Kopf. »Horst macht Musik. Schöne Musik.« Er nickte. »Machst du auch Musik?«
»Leider nicht.«
»Wenn man Musik macht, kommen viele Schmetterlinge.«
Bei der Vorstellung musste Lisa lachen. »Das kommt auf die Musik an.«
»Bei Horst geht das.«
»Welches Instrument spielt er denn?«
»Harfe.«
»Harfe? So ein großes Instrument?«
»Nein, sie ist ganz klein.« Tommy zeigte mit den Fingern, was er mit »klein« meinte.
»So kleine Harfen gibt es aber nicht, Tommy. Sie sind viel größer.«
»Nein, man kann sie in den Mund stecken.« Er hielt seine Hände an den Mund und pustete durch sie hindurch.
Nun wusste Lisa, was Tommy meinte. »Mundharmonika.«
Tommy verneinte. »Eine Bluesharfe.«
»Eine Mundharmonika nennt man auch Bluesharfe. Mein Freund hat auch eine.«
»Macht er damit auch Schmetterlinge?«
Lisa lachte erneut. »Ja, das macht er.«
»Ich mag Harfenmusik. Vielleicht schenkt meine Mama mir eine Bluesharfe zu Weihnachten.«
»Wenn du sie dir wünschst, geht der Wunsch vielleicht in Erfüllung.«
Tommys Blick verdunkelte sich. »Mama kommt nicht.«
»Aber du hast doch gesagt, dass sie dich besucht.«
»Sie hat angerufen. Gestern.« Tommy stand jetzt mit hängenden Armen und gesenktem Kopf vor Lisa.
»Aber Herr Claßen …?« Sie vollendete den Satz nicht.
Tommy schüttelte langsam den Kopf. »Mama hat gesagt, ich soll nichts sagen. Ich bin traurig.«
»Oh, das tut mir wirklich leid.« Lisa fühlte sich hilflos, Tommy stand vor ihr wie ein Häufchen Elend.
»Mama kommt fast nie.«
Lisa sah, dass Tommy weinte.
»Hast du den Stuhl beflochten?« Sie wollte ihn aufmuntern.
Tommy nickte stumm.
»Er ist sehr schön geworden. Das hast du gut gemacht, Tommy.«
Er nickte.
»Das ist bestimmt eine schwere Arbeit.«
Tommy wischte sich mit der Hand übers Gesicht und schniefte. »Geht ganz leicht.«
»Ich könnte das aber nicht.« Lisa lächelte Tommy an.
»Horst sagt, wenn man behindert ist, kann man viele Sachen gut.«
Lisa war verblüfft. So hatte sie das noch nicht gesehen. Der Satz hatte eine gewisse Logik. Sie nickte nachdenklich.
Tommy nickte auch. »Horst ist klug.«
»Wann siehst du Horst denn wieder?« Lisa war froh, dass Thema wechseln zu können.
Tommy zuckte ratlos mit den Schultern. »Horst ist weg. Und Elvira ist auch weg.«
Elvira? Der Name sagte Lisa etwas. Aber sie wusste nicht, in welchem Zusammenhang sie ihn schon gehört hatte.
»Tommy? Kommst du? Du hältst die Leute nur auf. Hast du die Werkstatt schon gekehrt?«
Lisa und Tommy schauten sich gleichzeitig um.
Hinter ihnen stand Friedhelm Claßen im Schatten des breiten Gebäudes und hatte die Hände in die Hüften gestemmt.
Ohne sich von Lisa zu verabschieden, trottete Tommy mit hängendem Kopf Richtung Werkstatt.
—
Es musste etwas passieren. Wie lange sollte das noch dauern? Er konnte und wollte nicht länger warten. Man nahm ihn nicht ernst. Er war angewidert. Er hätte es besser wissen müssen. Er würde nicht mehr lange zögern. Seine Versuchsreihe
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