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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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regte sich furchtbar über Plates Verhalten auf, das konnte ich ihr deutlich anmerken, doch auch sie sagte kein Wort. Klara verfolgte die Tortur mit gerunzelter Stirn. Dann wandte sie sich zu uns um, ihr Blick kreuzte sich mit dem von Vanessa.
    Vanessa war nicht gerade schüchtern, aber was sie nun tat, hätte ich ihr niemals zugetraut. Während Plate hämisch fragte: »Hat unser Mathematikgenie heute vielleicht einen schlechten Tag?«, stand sie mit geräuschvollem Stuhlrücken auf und ging forschen Schrittes nach vorn an die Tafel. Wortlos schob sie Cedric beiseite, ergriff ein Stück Kreide und begann damit, die Gleichung zu lösen.
    »Was soll das? Setz dich sofort wieder hin!«, rief Plate aufgebracht. Vanessa kümmerte sich nicht darum. Sie drehte die Gleichung um, genau so, wie ich es ihr gestern gezeigt hatte, begleitet von Plates vehementer Aufforderung, sie solle sich gefälligst hinsetzen, sie sei nicht dran.
    Als der Lehrer sich anschickte, ihr die Kreide aus der Hand zu nehmen, riss sie den Arm hoch und zischte: »Fassen Sie mich ja nicht an.«
    Plate hielt mitten in der Bewegung inne und die Klasse hielt synchron den Atem an. Eine zähe Sekunde verstrich, dann wich Plate zurück. Cedric nutzte die Gelegenheit und verdrückte sich in die Ecke am Fenster, wo er mit der Gardine verschmolz. Aber Plate beachtete ihn gar nicht, er war nun ganz auf Vanessa fixiert. Sein Bart zitterte vor verhaltener Wut, seine Augen funkelten gefährlich. »Sie sollen sich hinsetzen! Sie sind nicht dran!« Seine Stimme überschlug sich und klang piepsig, als er der aufsässigen Schülerin einen Verweis androhte. Vanessa, die die Gleichung schon fast gelöst hatte, hielt inne, ließ die Kreide sinken und wandte sich ihm zu. »Könnten Sie bitte mal einen Augenblick still sein? Ich muss mich konzentrieren.«
    Plate verschlug es jetzt tatsächlich die Sprache, sein Mund blieb offen stehen, Zeichen seiner abgrundtiefen Verwirrung. Die Zeit nutzte Vanessa, um x und y zu ermitteln und das Ergebnis triumphierend doppelt zu unterstreichen. Dann ging sie an Plate vorbei zu ihrem Platz und setzte sich hin. Cedric folgte in ihrem Windschatten. Ich beobachtete, wie Klara Vanessa zulächelte und den Daumen hob, als sie an ihr vorbeiging.
    »Das wird Folgen haben«, drohte Plate leise. Dieser Meinung war ich allerdings auch. Was war in Vanessa gefahren, ihre Versetzung so leichtfertig zu gefährden? Denn dass Plate sie ab jetzt auf dem Kieker haben würde, war klar, dazu musste man kein Hellseher sein.
    Auch Vanessa schien erst in diesem Moment zu begreifen, was sie sich mit ihrem Auftritt eingebrockt hatte. Sie lief knallrot an, ihre Hände verknoteten sich unter dem Tisch. Dabei schaute sie zu Klara hin. Ich begriff: So wie ich die Taube getötet hatte, hatte diese Aktion einzig und allein dazu gedient, Klara zu beeindrucken. Offenbar war Vanessa dies gelungen, denn Klara stand jetzt auf und sagte mit fester Stimme: »Herr Dr. Plate, ich finde es richtig, was Vanessa getan hat. Ich besuche Ihren Unterricht, um Mathematik zu lernen, und die anderen Schüler vermutlich auch. Wir sind nicht hier, um zu lernen, wie man schwache Schüler demütigt und schikaniert.« Damit setzte sie sich wieder hin, warf ihr Haar zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Im Klassenraum war es jetzt so still wie in einer Bibliothek. Vanessas Auftritt war schon revolutionär gewesen, doch so hatte bisher noch niemand mit Plate gesprochen. Wie würde der Tyrann reagieren? Dann fing irgendjemand – ich glaube, es war Daniel – an, langsam zu klatschen. Sofort machten andere mit und schließlich applaudierten alle außer Klara und Vanessa, die sich ansahen und grinsten.
    »Ruhe! Hört auf damit.« Unser Pädagoge quälte sich ein joviales Lächeln ab und sagte mit aufgesetzter Lässigkeit: »Okay, Leute, ihr hattet euren Spaß, aber jetzt bitte ich um Ruhe!«
    Doch wir kannten kein Halten mehr. Aus dem rhythmischen Klatschen wurde ein tosender Applaus, durchsetzt von Rufen wie »geil«, »endlich«, »starke Aktion«. Unser Hass und der Frust der vergangenen Monate entlud sich lawinenartig und Plate tat das Schlimmste, was ein Lehrer tun konnte: Er stand auf und floh aus der Klasse.
    »Das war dringend notwendig«, stellte Klara nach der Schule fest. Wir waren auf dem Weg zu den Fahrradständern. »Du warst prima, Vanessa.« Vanessa strahlte und ich spürte einen Stich in der Herzgegend. Eifersucht? Bei den Rädern angekommen, fragte Klara: »Habt ihr

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