Totentaenze
kommt?«
»Aus der Nähe von Hamburg«, sagte ich. Mehr wusste ich auch nicht. Klara erzählte nie etwas aus ihrer Vergangenheit.
»Hast du dir mal das Haus angesehen, in dem die wohnt? Die reinste Bruchbude.«
Natürlich hatte ich das Haus schon gesehen, allerdings nur von außen. Ich war schon oft daran vorbeigefahren, in der Hoffnung, Klara »zufällig« zu sehen, vielleicht im Garten oder am Fenster. Doch dazu war es bisher nicht gekommen. Tatsächlich war das Haus nicht gerade ein Vorzeigeobjekt. Im Gegenteil, es war mit Abstand das schäbigste in der Straße. Der Putz war bröselig und schmutzgrau, von den Fensterrahmen blätterte die Farbe und das Dach war vermoost. Es gab keine Gardinen und keine Pflanzen hinter den Scheiben, im unteren Stockwerk waren fast immer die Rollläden heruntergelassen, einer hatte sich auf halber Höhe schief verklemmt. Im Garten stand eine kaputte Kinderschaukel, die Büsche, die den mageren Rasen umrahmten, hätten dringend einen Rückschnitt gebraucht und vor dem Eingang verdorrten ein paar Kübelpflanzen.
Klara wohnte dort mit ihrer Mutter zur Miete, die Mutter arbeitete angeblich als Köchin in einem Hotel in Hannover. Dies alles wusste ich nicht von Klara, sondern von meiner Mutter, die es wiederum von unserer Nachbarin, dem Prototyp der geschwätzigen Vorstadthausfrau, gehört hatte. »Und wer weiß, ob das mit der Köchin überhaupt stimmt«, hatte sie vielsagend hinzugefügt. Einen Mann im Haus gab es, wollte man dem Tratsch Glauben schenken, offenbar nicht.
Nur zu gerne hätte ich gewusst, wie Klara dort drinnen lebte, was sie in ihrer freien Zeit machte, doch zu Verabredungen außerhalb der Schule war es bisher nicht gekommen. Nach Schulschluss verabschiedete sich Klara immer ziemlich schnell von mir und radelte allein nach Hause.
»Bestimmt hängt sie nachmittags mit älteren Typen ab und nimmt Drogen«, vermutete Vanessa.
Tatsächlich hatte ich Klara vor einigen Tagen am Baggersee gesehen. Ich war nach dem Fußballtraining dorthin geradelt, um eine Runde zu schwimmen. Zwischen den Sanddünen hatte sich eine Gruppe älterer Schüler niedergelassen, Flaschen lagen herum und der Rauch, der zu mir herüberwehte, roch verdächtig. Bei ihnen saß Klara. Ich wusste nicht, ob sie mich gesehen hatte, aber aus irgendeinem Grund kehrte ich gleich wieder um und fuhr nach Hause.
»Schwachsinn«, entgegnete ich nun wider besseres Wissen. Vanessa und ich saßen an meinem Schreibtisch und ich versuchte, sie auf die morgige Mathematikstunde vorzubereiten. »Der Plate hat mich neulich schon so angesehen, als wollte er sagen: Dich krieg ich noch. Der macht mich fertig, du musst mir helfen, erklär mir diesen Mist«, hatte sie mich heute Mittag angefleht. »Wenn ich in Mathe eine Fünf kriege, dann gute Nacht, dann kann ich einpacken, denn in Französisch sieht es auch nicht gerade rosig aus.«
Die meisten Lehrer an unserem Vorstadtgymnasium waren ziemlich okay. Dr. Helmut Plate jedoch, ein hagerer Mittfünfziger mit Glatze und einem verwegen gestylten Bart, war ein echter Stinkstiefel. Seit dem vergangenen Schuljahr war er unser Mathelehrer und seitdem hatten sich alle um ein bis zwei Noten verschlechtert. Wenn Plate mies gelaunt war, weil ihn seine Bandscheiben quälten oder seine Ehefrau, dann ließ er seinen Frust gnadenlos an uns Schülern aus. Schon deshalb war ich in Mathe immer gut vorbereitet, denn nichts bereitete ihm mehr Vergnügen, als einen von uns vorne an der Tafel fertigzumachen. »Okay, lass uns weitermachen«, sagte ich, um vom Thema Klara abzulenken. »Gleichung mit zwei Unbekannten …«
Am nächsten Tag erwischte es jedoch nicht Vanessa, sondern Cedric. Noch immer befand sich zwischen ihm und Klara der leere Stuhl, den Klara für ihre Schultasche beanspruchte, und ich schätzte, dass die beiden noch keine fünf Sätze miteinander gewechselt hatten.
Nun stand Cedric an der Tafel und unserem Klassenclown verging gerade gründlich das Lachen. Mit hochrotem Kopf kämpfte er mit einer Gleichung mit zwei Unbekannten, kritzelte Zahlen hin und wischte sie wieder weg, nun schon zum vierten Mal. Plates ironische Kommentare waren wenig hilfreich, aber das sollten sie wohl auch nicht sein. Cedric, der hinter seiner Clownsfassade ein Sensibelchen war, konnte einem wirklich leidtun. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, die ein Kreidestrich verunzierte, er war den Tränen nahe. In der Klasse war es mucksmäuschenstill, alle wirkten angespannt. Vanessa neben mir
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