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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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als ob die Sonne aufging.
    Innerhalb weniger Tage war Klara an der Schule bekannt wie ein bunter Hund. Sogar Typen aus der Oberstufe schwänzelten auf dem Schulhof um sie herum und je nach Tageslaune redete sie mit ihnen oder ließ sie abblitzen. Die Jungs aus unserer Klasse dagegen litten unendliche Qualen, denn sie waren Luft für Klara. Einzig Daniel durfte das Wort an sie richten, ohne dass sie ihm gleich über den Mund fuhr. Die Mädchen behandelte sie freundlich, aber distanziert. Sie schien sich noch nicht entschieden zu haben, wen sie in ihrem Dunstkreis dulden wollte.
    Es stellte sich heraus, dass Klara nur zwei Straßen weiter wohnte als Vanessa und ich. Jetzt, im Juni, fuhren wir mit dem Fahrrad zur Schule und schon einige Male war Klara auf ihrem etwas klapprigen Rad an uns vorbeigefahren, ohne uns Beachtung zu schenken. Normalerweise hätte Vanessa in so einem Fall etwas wie »arrogante Zicke« von sich gegeben, aber sie sagte nichts dergleichen.
    Als wir am Dienstag der folgenden Woche nach Hause radelten, bemerkte ich eine Bewegung im Rinnstein und machte Vanessa darauf aufmerksam. Wir wurden langsamer. Was war das? Spielte der Wind mit einem Stück Zeitung? Wir hielten an. Es war eine Taube. Sie hüpfte und flatterte in einem Radius von einem Meter im Kreis herum, ohne sich dabei mehr als ein paar Zentimeter in die Luft zu erheben. Auch das aufrechte Sitzen schien ihr schwer zu fallen. Immer wieder kippte sie nach vorn oder zur Seite. Dann begann sie erneut, kläglich zu flattern, wobei ihr linker Flügel in einem seltsamen Winkel vom Körper abstand. An mehreren Stellen fehlten dem armen Tier die Federn; es sah aus, als sei die Taube unter ein vorbeifahrendes Auto geraten.
    Vanessa und ich tauschten einen ratlosen Blick.
    »Wir müssen irgendetwas tun«, sagte ich hilflos.
    »Sollen wir sie zum Tierarzt schaffen?«, fragte Vanessa.
    »Wie denn?«
    »Ich könnte sie in meine Jacke wickeln«, schlug Vanessa vor.
    »Sie wird Angst kriegen, alles vollkacken und vor lauter Aufregung sterben, bevor wir beim Tierarzt sind«, prophezeite ich. Stadttauben waren Schädlinge, jedenfalls behauptete das mein Vater. Dennoch konnte ich den Anblick des leidenden Tiers kaum ertragen. Ich verspürte einerseits den Drang, alles, was in meiner Macht stand, für die Rettung der armen Kreatur zu unternehmen – schon, um mir nichts vorwerfen zu müssen. Aber andererseits wollte ich auch nicht, dass wir das kranke Tier unnötig quälten. Was, wenn es dann trotzdem sterben würde – nur eben unter noch größeren Schmerzen, als es sie ohnehin schon hatte? Waren wir dann nicht doppelt schuldig? Mein Meerschweinchen Joschi fiel mir wieder ein. Es war mir vor zwei Jahren im Garten entlaufen, weil ich nicht richtig aufgepasst hatte, und ich hatte es seitdem nie mehr gesehen. Sein ungewisses Schicksal verursachte mir immer noch regelmäßig Albträume und ich fragte mich zum tausendsten Mal, wie es wohl gestorben war. Denn die tröstliche Geschichte meiner Mutter, dass jemand Joschi gefunden und zu sich genommen hatte, hatte mit jedem Tag, den ich älter geworden war, an Glaubwürdigkeit verloren. Ich blickte erneut auf die Taube. War sie schon tot? Dieser verdammte Vogel sollte doch bitte schön jetzt, auf der Stelle, von selbst sterben. Aber ein Zucken des Kopfes signalisierte das Gegenteil.
    »Man muss sie töten.«
    Die Worte kamen von Klara. Wir hatten sie nicht kommen hören, plötzlich stand sie hinter uns, über den Lenker ihres Rades gebeugt. »Die hat keine Chance mehr«, fügte sie hinzu.
    »Woher willst du das wissen?«, erwiderte Vanessa.
    »Ich sehe es.«
    Sie hatte recht und auch ich wusste es, wenn ich ehrlich war, seit ich die Taube im Rinnstein gesehen hatte.
    Das Tier begann erneut, seine Flügel zu heben, als wollte es gegen sein Todesurteil protestieren. Doch gleich darauf sanken die Schwungfedern müde in den Staub und der Kopf kippte erschöpft zur Seite.
    »Also, was ist jetzt?« Klara sah Vanessa und mich auffordernd an. »Traut sich eine von euch, diese Taube zu töten?«
    »Wie – töten?«, fragte Vanessa entsetzt.
    »Na, so.« Klara vollführte eine Bewegung, als wollte sie einen imaginären Lappen auswringen. Dabei sah sie mich an. Mein Herz schlug bis zum Hals. Hier war sie, die einmalige Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte, seit Klara zum ersten Mal in der Klasse gestanden hatte. Klaras Freundschaft war nicht umsonst zu bekommen, das war mir auf einmal klar, und das Töten dieses

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