Totentaenze
fühlen konnte?
»Was ist mit deinem Vater?«, fragte ich und bereute es sofort, denn ich konnte richtig beobachten, wie ein Schatten über Klaras Gesicht glitt. Schließlich antwortete sie: »Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich noch sehr klein war. Inzwischen darf ich ihn gar nicht mehr sehen, es wäre zu gefährlich.«
»Mein Gott. Das ist ja furchtbar«, entfuhr es mir.
»Ja«, nickte Klara betrübt. »Das ist nicht lustig. Deshalb denke ich manchmal über so seltsame Dinge nach.«
Vanessa und ich nickten synchron. Mein Blick fiel auf den Laptop, der auf dem ansonsten leeren Schreibtisch lag. »Kannst du deinen alten Freunden wenigstens mal eine E-Mail schicken?«
Klara schüttelte müde den Kopf. »Was würde das nützen? Ich kann ihnen ja nicht mal erklären, wo ich bin und warum ich Hals über Kopf abreisen musste.«
So resigniert das auch klang, es leuchtete mir ein.
»Ihr seid die Einzigen, die nun Bescheid wissen«, stellte Klara fest. »Und ihr dürft es nie jemandem erzählen.« Ich fühlte einen Anflug von Stolz und Vanessa ging es wohl genauso, sie drückte Klara spontan die Hand. »Wir passen schon auf dich auf«, versprach sie.
»Wollen wir zum See fahren?«, wechselte Klara das Thema. Wir stimmten rasch zu. Vanessa war offenbar genauso froh wie ich, dieses Haus wieder verlassen zu dürfen.
»Wir gehen schwimmen, Mama«, rief Klara, ehe wir die Haustür hinter uns schlossen. Es kam keine Antwort. Ich atmete auf, als ich hinaus in die Sonne trat.
Den ganzen Nachmittag musste ich fast ununterbrochen an Klaras Geheimnis denken. Sie tat mir leid. Gleichzeitig faszinierte mich ihre Geschichte. Was führte ich nur für ein eintöniges, geregeltes Leben, verglichen mit dem ihren? Andererseits – niemand wollte wohl ernsthaft so leben wie Klara, immer in Angst, immer auf dem Sprung. Ein beunruhigender Gedanke stellte sich ein: Von nun an konnte es jeden Tag geschehen, dass Klara morgens nicht zur Schule kommen und dann für immer verschwunden sein würde.
Während der vergangenen Tage war mir aufgefallen, dass sich Klara kaum noch mit Daniel abgab. In den Pausen stand der nun wieder mit seinen Kumpels zusammen oder flirtete mit den einschlägigen Tussen aus unserem Jahrgang.
Am Freitagmorgen erwischte ich ihn kurz vor dem Schultor.
»Was ist mit dir und Klara, habt ihr Krach?«, fragte ich rundheraus.
»Nein«, sagte er im Weitergehen.
»Aber bis vor Kurzem wart ihr doch fast in jeder Pause zusammen«, bohrte ich nach und es lag mir auf der Zunge hinzuzufügen: »Und neulich habe ich euch in der Eisdiele zusammen gesehen.« Ich verkniff es mir.
»Lass mich mit Klara zufrieden«, brummte Daniel, während ich Mühe hatte, seinen weit ausgreifenden Schritten zu folgen.
Ein anderer Kerl, ganz klar, kombinierte ich. Aus Daniels Verhalten sprach für mein Dafürhalten die blanke Eifersucht. Ich musste mir eingestehen, dass ich mit dieser Entwicklung gar nicht so unzufrieden war, und lächelte verstohlen, als Daniel abrupt stehen blieb, sodass ein paar jüngere Schüler prompt gegen unsere Rücken prallten. »Könnt ihr Knirpse nicht aufpassen?«, herrschte er sie an, worauf einer von ihnen den Mittelfinger reckte. Daniel ignorierte die Geste, stattdessen sah er mich eindringlich an: »Caro, lass dich nicht zu sehr mit Klara ein. Die tut dir nicht gut.«
Ich wurde krebsrot. Wusste Daniel etwa von der Sache mit dem Diebstahl? Von der Taube? Außerdem ärgerte mich, dass er klang, als wäre er mein Vater.
»Wieso?«
»Die Frau ist durchgeknallt. Voll durchgeknallt, glaub mir!«, sagte Daniel und damit ließ er mich stehen und eilte durch das Tor, während die Schulglocke schrillte.
Frau Hagedorns Unterricht plätscherte wie Fahrstuhlmusik an mir vorbei, während ich noch immer über Daniels Worte nachdachte. War es wirklich Eifersucht? Warum bezeichnete er Klara dann als »voll durchgeknallt«? Meiner Erfahrung nach nannten verschmähte Jungs das bewusste Mädchen eher »Schlampe«. Allerdings war Daniel nicht wie andere Jungs und ein solcher Ausdruck wäre unter seiner Würde gewesen. Für ihn war »durchgeknallt« schon ein hartes Wort. Ein ganz anderer Gedanke kam mir: Vielleicht hatte Klara gelogen, als sie sagte, nur Vanessa und ich würden ihr Geheimnis kennen. Vielleicht waren wir nur zweite Wahl, vielleicht hatte sie es Daniel zuerst erzählt? Der hatte ihr nicht geglaubt und hielt sie nun für verrückt. Hatten Vanessa und ich diese Zeugenschutz-Story etwa viel zu
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