Totentaenze
Kein Mensch weit und breit. Obwohl ich mich abgehetzt hatte, um hierher zu kommen, blieb ich nun zögernd vor der Gartenpforte stehen. Alle Rollläden waren heruntergelassen. Was jetzt? Wenn es ein Notfall war, warum hatte Klara mich gerufen, warum nicht die Polizei? Ich lauschte, inständig darauf hoffend, eine sich nähernde Sirene zu hören. Aber alles blieb still, nur eine Amsel flötete ihr Lied. Ich trat durch die Gartenpforte, ängstlich darauf bedacht, dass das Ding nicht quietschte. Langsam näherte ich mich dem Haus. Die Stollen meiner Fußballschuhe klackerten überlaut auf dem Waschbeton, also ging ich neben dem Weg über den Rasen. Die Haustür war einen Spalt weit offen. Sollte ich nicht doch lieber sofort die Polizei rufen, statt alleine dieses schaurige Haus zu betreten, ohne zu wissen, was dort auf mich wartete? Wilde Gedanken schossen mir durch den Kopf: Was, wenn da drinnen ein Mörder lauerte, womöglich bewaffnet? Vielleicht waren Klara und ihre Mutter bereits tot? Aber warum stand dann der silberfarbene Wagen noch da? Vielleicht hielt der Mann Klara und ihre Mutter als Geiseln …
Die Angst schnürte mir nun beinahe die Kehle zu, aber dennoch ging ich auf die Tür zu. Wenn Klara etwas passiert war, musste ich ihr helfen. Plötzlich quietschte hinter mir die Gartenpforte. Zu Tode erschrocken fuhr ich herum.
»Vanessa!«
»Hat sie dich auch angerufen?«, fragte sie. Ihr Gesicht war rot und erhitzt.
»Ja.«
»Und worauf wartest du dann?«
»Äh …« Verdammt, ich hätte ihr von dem Mann vor der Schule erzählen sollen. Nun war es zu spät.
»Los, gehen wir rein.« Schon strebte Vanessa mit entschlossenen Schritten auf die Haustür zu. Ich folgte ihr auf wackeligen Beinen. Dunkel empfing uns der Flur.
»Klara? Wir sind hier, wo bist du?«, rief Vanessa.
Klaras Stimme kam aus der Küche. »Ich bin hier.«
Wenigstens ist sie nicht tot, dachte ich und spürte, wie erleichtert ich war.
Sekunden später erstarrten wir im Türrahmen. Klara stand am Spülbecken, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Gesicht war seltsam wächsern und starr, jede Emotion schien daraus verschwunden zu sein. Sie wirkte hoch konzentriert und machte gleichzeitig einen seltsam konfusen Eindruck. Das alles nahm ich innerhalb weniger Sekunden wahr, dann blieb mein Blick an etwas anderem hängen: Auf dem Küchenboden lag ein toter Mann. Dass er tot war, sah ich nicht nur daran, dass er sich kein bisschen bewegte und in einer Blutlache lag, nein, der Messergriff, der aus seinem Bauch ragte, verriet auch, woran er gestorben war.
»Ich brauche eure Hilfe«, sagte Klara nüchtern.
Ich brachte keinen Ton heraus. Vanessa, die kreidebleich geworden war, räusperte sich. »Ist das der … der …«
»Ja.« Erst jetzt bemerkte ich, dass Klara am ganzen Körper zitterte.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte ich.
»Arbeiten. Sie kommt um acht, bis dahin muss er verschwunden sein.« Klaras Stimme klang gehetzt.
»Wir müssen die Polizei rufen«, sagte ich.
»Nein«, rief Klara. »Nicht die Polizei!« Sie starrte mich mit angstvoll geweiteten Augen an. Seltsamerweise wurde mir in diesem Augenblick bewusst, dass ich noch immer mein Fußballtrikot trug.
»Warum nicht?«, fragte Vanessa.
»Ich will nicht in den Knast oder in die Psychiatrie. Bitte … wir müssen ihn verschwinden lassen.« Der Blick ihrer blauen Augen hatte nun etwas Irres. »Ihr habt geschworen, dass wir Freunde sind. Für immer. Freunde helfen einander«, flehte sie.
Inzwischen war ich der festen Überzeugung, dass sie nicht ganz bei Sinnen war. Bestimmt hatte sie einen Schock oder so etwas in der Art. Ich spürte, wie eine Welle der Hilflosigkeit mich zu überrollen drohte. Diese Situation hier war etwas, womit weder ich noch Vanessa noch Klara klarkommen würden. Das hatte nichts mehr mit ein paar geklauten Klamotten zu tun oder einem todkranken Tier. Das war nichts, was wir unter Kontrolle hatten. Mir wurde flau.
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Vanessa überraschend sachlich. »Sollen wir ihn vielleicht am hellen Tag im Garten verbuddeln?«
Ich löste mich vom Türrahmen und trat vorsichtig näher an den Toten heran, während ich mich darauf konzentrierte, nicht mit meinen Fußballschuhen in die Blutlache zu treten. Ja, es war der Mann, der heute Morgen vor der Schule gestanden hatte. Sein helles Hemd hatte sich mit seinem Blut vollgesogen, an mehreren Stellen war der Stoff aufgerissen. Klara musste mindestens viermal zugestochen haben. Nun
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