Totentaenze
verstand ich sehr gut. »Du hast dich geschämt«, sagte ich.
»Ja«, gestand Klara. »Und ich hatte riesige Angst. Wir wussten von Anfang an, dass er nach uns suchen würde. Nicht weil mein Vater meine Mutter und mich liebt, sondern weil er furchtbar stolz ist. Er muss alles unter Kontrolle haben, wollte immer ganz genau wissen, was meine Mutter und ich machten und mit wem wir uns trafen, als wir noch zusammenlebten. Dass die eigene Frau mit der Tochter einfach so abhaut, das passt absolut nicht in sein Weltbild. Das passiert anderen Männern, nicht meinem Vater. Er muss getobt haben, als er es merkte. Natürlich war mir klar, dass ich vorsichtig sein musste, dass ich mit niemandem darüber reden durfte. Und dann kamen diese Anrufe. Irgendwie hat er uns gefunden, ich habe keine Ahnung, wie. Natürlich sind wir nie drangegangen, aber meine Mutter und ich waren beide sofort sicher, dass er es war. In ein paar Tagen wären wir umgezogen – zurück ins Frauenhaus, da hätte er uns nichts tun können. Es war alles schon geplant. Aber dann ist er vor einer Stunde plötzlich hier aufgekreuzt. Stand einfach vor der Tür, hat mich zur Seite geschoben und es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Er tat scheißfreundlich, aber ich habe ganz genau gespürt, wie die Wut in ihm kochte, ich kenne ihn zu gut. Ich wusste, wenn meine Mutter nach Hause kommt, dann wird er sie totprügeln. Und da habe ich eine günstige Gelegenheit abgewartet und zugestochen, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr bewegt hat. Er wirkte ganz erstaunt, hat überhaupt nicht damit gerechnet.« Klara lachte rau auf.
Ich musste an diese seltsame Unterhaltung denken, die wir neulich in ihrem Zimmer geführt hatten. »Was ist mit Selbstverteidigung? Wenn dich jemand bedroht. Dich oder deine Familie?«, hatte Klara gefragt. Nun war mir klar, warum sie diese Fragen gestellt hatte. Sie hatte gewusst, dass ihr Vater sie und ihre Mutter früher oder später finden würde. Sie hatte geplant, ihn zu töten, um ihre Mutter zu schützen. War so etwas Notwehr oder war es Mord?
Auf einmal fühlte ich mich stärker, die Unsicherheit und das flaue Gefühl im Magen waren verschwunden. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte: Ich nahm Klara am Arm und führte sie um den Toten herum aus der Küche hinaus in den Garten. Sie leistete keinen Widerstand, geradeso, als wäre nach diesem Geständnis alle Kraft aus ihr gewichen. Die frische Luft bewirkte seltsamerweise, dass sich Klara in ein von Unkraut überwuchertes Kräuterbeet erbrach. Vanessa war uns gefolgt, sie legte den Arm um Klara und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Lautlos begann Klara zu weinen. Ich ging zu meinem Fahrrad, suchte in meiner Sporttasche nach meinem Mobiltelefon und rief die 110 an. Mit ruhiger Stimme nannte ich die Adresse und sagte, dass es hier einen Todesfall gegeben hatte. Danach rief ich meinen Vater an und machte ihm klar, dass wir schleunigst einen Anwalt brauchten. Dann warteten wir.
Klara kam nicht ins Gefängnis. Sie erhielt eine ambulante psychiatrische Behandlung, die über zwei Jahre dauerte. Als die Journalisten bei ihr und ihrer Mutter Sturm klingelten, war sie einen Augenblick lang wieder ganz die Alte und hat nur mit den Schultern gezuckt. Kurz nach dem Vorfall ist sie mit ihrer Mutter umgezogen; sie wohnen jetzt in einer großen Stadt, die fünf Stunden von unserer entfernt liegt. Sie wollten dort noch einmal neu beginnen – und diesmal wirklich. Es geht ihr gut; ab und zu schreiben wir uns E-Mails oder telefonieren miteinander.
Das Ganze ist nun über drei Jahre her. Vanessa und ich machen dieses Jahr unser Abitur. Dr. Plate hat inzwischen die Schule verlassen und ist frühpensioniert.
Heute hat mich Daniel gefragt, ob ich ihn zum Abschlussball begleite. Ich habe Ja gesagt.
Beatrix Gurian: Wie du ihm, so ich dir
Lina
Rache ist ein sehr hässliches Wort. Wenn ich es wütend ausspreche, bleibt das »ach« fast in meiner Kehle stecken. Bisher habe ich gedacht, dass Rache nur etwas für schmutzige Männer mit struppigen Bärten auf schwitzenden Pferden ist, die mit ihren rauchenden Colts in den Weiten Amerikas herumballern. Oder für Mädchen, die von ihrem Liebsten mit ihrer besten Freundin betrogen werden.
Nie, wirklich niemals hätte ich gedacht, dass ich an den Punkt kommen würde, an dem es nur noch diese eine Lösung gibt: Rache.
Aber Maries grausame Tat muss gesühnt werden, weil es himmelschreiendes Unrecht wäre, wenn sie ohne Strafe davonkäme. Immerhin hat
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