Totentaenze
ich wieder nach oben in die Küche und hole die Wodkaflasche aus dem Eisfach. Ich fülle die Hälfte in eine halb leere Colaflasche und stelle diese wieder in den Kühlschrank. Ich merke, dass meine Hände zittern. Nein, Lina, du darfst jetzt nicht schwach werden, du musst das jetzt durchziehen. Denk einfach nur daran, was dieses Miststück deinem Bruder angetan hat!
Ich nutze die halbe Stunde, bis Marie kommt, um mir diese unglaubliche Geschichte noch einmal vor Augen zu führen, um nachher nicht im letzten Moment noch weich zu werden.
Fast hätte Marie-Amelie es ja geschafft, nicht aufzufliegen, denn alle waren sich darin einig, dass es ein schrecklicher, tragischer Unfall gewesen sei.
Drei Tage ist es nun her, dass die Polizei an unserer Tür geklingelt hat. Ich bin aus dem Schlaf hochgeschreckt und war gleichzeitig mit meinen Eltern an der Wohnungstür.
»Ihr Sohn hatte einen Autounfall«, hat der eine Polizist gesagt und dabei nicht uns, sondern seinen Kollegen angesehen.
Luis hatte sich das Auto meiner Eltern genommen und war auf einem Waldweg gegen einen Baum gefahren.
Ein Unfall. Das sagten sie alle. Die Polizei, meine Eltern. Natürlich verstehe ich, dass unsere Eltern eher sterben würden, als zu akzeptieren, dass ihr Sohn Selbstmord begehen wollte. Sogar ich habe einen kurzen Moment geglaubt, es wäre tatsächlich ein Unfall gewesen, weil ich mir nicht vorstellen wollte, mein kleiner Bruder wäre absichtlich gegen den Baum gefahren.
Aber dann habe ich mich gefragt, was Luis eigentlich mit Papas Auto mitten in der Nacht auf diesem Waldweg zu suchen hatte. Und nachdem ich erst einmal angefangen hatte, darüber nachzudenken, wurde mir klar, dass Luis eben niemals »einfach so« Papas Auto nehmen würde.
So etwas würde sich vielleicht Nils trauen, aber Luis – no way! Schließlich haben Nils und ich schon mehrfach versucht, Luis auf abgelegenen Ackerstraßen das Fahren beizubringen, und dabei ist Luis jedes Mal vor Angst beinahe gestorben. Er hätte das Auto definitiv niemals nur zum Spaß genommen. Und alle, die ihn kennen, hätten das eigentlich wissen müssen. Aber niemand außer mir schien sich für Luis’ Gründe zu interessieren.
Für mich ist mein Bruder der wichtigste Mensch auf der Welt. Mama hat mal gesagt, wenn sie es nicht besser wüsste, dann würde sie sogar denken, wir wären Zwillinge. Was natürlich völliger Quatsch ist, denn Luis ist knapp zwei Jahre jünger und ganz anders als ich.
Schon allein, wie wir aussehen: Luis ist klein, dunkelhaarig und hat zurzeit ziemlich viel Speck auf den Hüften. Ich dagegen sehe aus wie ein Gartenschlauch mit Haaren dran.
Und auch sonst unterscheiden wir uns total. Ich hasse es, im Meer zu schwimmen, all diese schleimigen Aale und Fische, die wabbeligen Quallen und hinterhältigen Seeigel, die unter der Oberfläche lauern – uäh! Luis hat schon lange einen Tauchschein.
Mein Brüderchen liebt grünen Wackelpudding, ich finde, der schmeckt wie billiges Parfüm. Ich mag kalte Thunfisch-Pizza mit erstarrtem Käse drauf, Luis muss sich allein bei dem Gedanken daran schon übergeben.
Na ja und dann liebe ich Nils, den Luis nicht ausstehen kann. Aber das ist schon okay, schließlich sind die beiden wie Feuer und Wasser. Wenn ich sie als Tiere malen müsste, dann wäre Luis eine Mischung aus Schildkröte und wuseligem Streifenhörnchen und Nils ein Adler.
Luis würde mir jetzt grinsend widersprechen und sagen: »Verstehe, dass du bei Nils auf Vogel kommst, weil er hat mindestens einen … Aber ich denke bei ihm an alles andere als an einen Adler. Ein Pfau trifft’s wohl eher …«
Oh Mann, jetzt mache ich das schon wieder, ich bilde mir ein, Luis wäre in meiner Nähe und würde so wie sonst mit mir reden. Das passiert mir ständig, aber ich behalte es für mich, weil es keinen etwas angeht. Auch nicht die Psychologin, Klara-Luise Brönner-Schönlein, zu der mich Mama schon einen Tag nach dem »Unfall« geschleppt hat, damit ich diese »traumatische Erfahrung« gut verarbeite. Dort sollte ich Bilder zeichnen. Meine schwarzen Quallen auf schwarzem Hintergrund gefielen ihr nicht und über Luis’ Unfall reden wollte ich nicht. Das hat Frau Brönner-Schönlein, die mich an einen nervösen Tapir erinnert hat, mächtig geärgert.
Schade, dass Luis nicht dabei war, der hätte bestimmt eine komische Nummer daraus gemacht. Eins der wenigen Dinge, über die wir uns einig sind, ist nämlich, dass er mal ein großer Komiker wird, wenn …
Ich muss mich
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