Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed
Reisfelder verdorrten, und im Erdboden taten sich tiefe Risse auf. Als der Juli kam, hatten die Leute keinen Zweifel mehr, dass diese noch nie da gewesene Dürre auf das Konto der neuen Regierung ging. Der Sozialismus war schlecht fürs Wetter. So viel war selbst dem schlichtesten aller schlichten Gemüter klar. Sämtliche Versuche der Regierung, den Widerstand in der Bevölkerung zu brechen, hatten das genaue Gegenteil bewirkt.
Herr Geung wusste von all dem weiter nichts, als dass die Reisstoppeln unter seinen Füßen knirschten, doch in seinen neuen Stiefeln kam er gut voran. Sie hatten dem Mann der alten Dame gehört, der in seiner Urne damit vermutlich wenig anfangen konnte. Ihrem Sohn waren sie zu klein, Geung hingegen passten sie wie angegossen, und er trug sie voller Stolz. Sie hatte ihm ein großes Paket Trockenproviant mitgegeben und ihn mit einer stinkenden Salbe eingerieben, die ihm die bösartigen, mit dem Dengue-Bazillus infizierten Stechmücken vom Leibe halten sollte, die das Land unsicher machten.
»W… wir sollen der St… St… Straße folgen«, erklärte er Dtui, die neben ihm her ging. »A… aber so, dass uns k… keiner sieht.« Beim Frühstück hatte die alte Frau ihm seine Geschichte aus der Nase gezogen und ihn gewarnt, dass die Soldaten, denen er entwischt war, todsicher nach ihm suchen würden.
»Bleib in der Nähe der Straße, aber pass auf, dass dich niemand sieht«, hatte sie ihm eingeschärft. »Wenn von hinten ein Auto kommt, das nicht grün ist wie ein Militärfahrzeug, lass dich mitnehmen. Halte dich von allem fern, was grün ist. Kapiert?«
Die Worte hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt, doch ganz begriffen hatte er sie nicht. »Von hinten« fand er besonders verwirrend, denn was hinter ihm lag, hing schließlich davon ab, in welche Richtung er sich drehte. Und da er ständig durch das Laub der Bäume spähte, war entlang der Straße praktisch alles grün.
Geung war den ganzen Tag marschiert. Er musste schnellstmöglich ins Leichenschauhaus zurück, und das hielt ihn auf den Beinen. Er ächzte. Er keuchte. Sämtliche Knochen taten ihm weh. Seine Angst kam und ging,
und der Boden schwankte unter ihm, als ritte er auf dem Rücken eines Drachen nach Vientiane. Doch als er einen lauten Knall hörte und sah, wie ein Blutfleck an seinem Hemd erschien, blieb er erstaunlich ruhig.
»Eine Sch… Sch… Schusswunde«, sagte er, als würde er einem Pathologen seinen Zustand schildern. Er rührte sich nicht von der Stelle und sah zu, wie der rote Fleck sich in ein Land verwandelte, eines der Länder in Dtuis Atlas, in dem angeblich Millionen von Menschen lebten. Was mussten das für klitzekleine Menschen sein. Fasziniert beobachtete Geung, wie der Fleck die ungefähren Umrisse der UdSSR annahm. Dann wurde er leichenblass und fiel zu Boden wie ein Zaunpfahl.
Chaos. Panik. Immer neue Notfälle und Katastrophen. Bald schon schälten sich drei Kategorien von Notfällen heraus: Alles-stehen-und-liegen-lassen-Notfälle, Tun-wasman-kann-Notfälle und Abwarten-und-Tee-trinken-Notfälle. Auch für Katastrophen gab es eine Bewertungsskala: unvermeidlich, wir-haben-alles-Menschenmögliche-getan, meine Schuld/Ihre Schuld. Darüber hinaus galt es, gottgleiche Entscheidungen zu treffen, etwa welcher Patient am ehesten den Tod verdiente. Am Nachmittag ihres zweiten Tages fragte sich Dtui allen Ernstes, ob ihr Herz verkümmert war. Sie spürte nichts mehr. Sie nahm die Menschen nicht mehr als Menschen wahr. Und den Tod nicht mehr als Tragödie. Ihre Patienten waren keine Hufschmiede oder Hausfrauen mehr, sondern nur noch Prozentsätze. »Mit ein wenig Geschick und ein wenig medikamentöser Unterstützung hat diese Patientin – nennen wir sie Nummer sieben – eine vierzigprozentige Überlebenschance.«
Wenn sie ordentliche Arbeit leisten wollte, durfte sie keinen
Anteil nehmen, und diese Erkenntnis fand sie ebenso verblüffend wie betrüblich. Ihr wurde klar, dass Dr. Siri nach all den Jahren als Feldchirurg vermutlich schon lange in Prozentsätzen dachte. Es hatte ihn nicht gefühllos werden lassen, nur nachdenklich, philosophisch. Wenn er einen Patienten verlor, war das leichter zu ertragen, wenn die Chancen ohnehin schlecht standen. Daran wollte sich Dtui bei Kilometer 8 ein Beispiel nehmen.
Gegen Abend ließ der Andrang langsam nach. Zwei hatten sie den Hang hinaufschicken müssen. Drei hatten sie stabilisiert. Dtui war vom Adrenalin derart berauscht, dass sie wie auf einem
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