Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed
verbundenen Verpflichtungen waren so groß, dass er die Flucht ergriff und sich zu Fuß – jawohl, Genossen, zu Fuß – auf den Rückweg hierher, in dieses Leichenschauhaus machte. Zehn lange Tage marschierte er unter der sengenden Sonne vor sich hin« – ein Schluchzen drang von der Kühlkammer herüber – »und legte dabei eine Strecke von sage und schreibe vierhundertachtzig Kilometern zurück. Aber wie Sie sich sicher vorstellen können, schwächte ihn die Reise, und nicht nur das, er infizierte sich außerdem mit Denguefieber. Als er hier ankam, war er so gut wie tot. Er brach gleich hinter Ihnen zusammen.«
Alle drehten sich um, als würde der Arme immer noch dort liegen. Siri benutzte die Gelegenheit, um verstohlen zu Haeng zu blicken, der die Zähne so fest zusammenbiss, als seien sie verschweißt. Die Delegation wandte sich wieder um und sah, dass Tränen über die runden Wangen der jungen Krankenschwester liefen.
»Er ist tot?«, fragte jemand.
»Nein«, antwortete Siri. »Aber sein Leben hängt am seidenen Faden.« Die Vietnamesen durchbohrten Haeng, der entblößt und hilflos neben ihm stand, mit wütenden Blicken. Siri rechnete mit wenigstens einem letzten Verteidigungsschlag des Richters, und er wurde nicht enttäuscht.
»Wir … tun alles, was in unserer Macht steht, um ihn am Leben zu erhalten«, sagte Haeng. Es klang nicht besonders überzeugend; er hatte nicht gewusst, dass der Schwachkopf wieder da war. »Wenn er durchkommt, werden wir seinen Mut und seinen Einsatz natürlich gebührend würdigen.«
»Das will ich doch stark hoffen«, sagte der altgediente Kader. »Genau diesen Geist brauchen wir in einem sozialistischen Staat. Er könnte den Werktätigen ein enormer Ansporn sein. Wenn ein Mongoloider sich derart für die Partei einsetzt …«
»Wohl wahr«, bekräftigte jemand.
»Ein Orden, mindestens«, sagte Dr. Nguyen.
»Die ganze Strecke zu Fuß – unfassbar«, sagte der Polizist.
Nicht lange, und die Pathologie schwirrte von Begeisterung und Hoffnung für den leicht angeschlagenen, aber mutigen Soldaten der Revolution. Jemand schlug vor, dem tapferen Krieger einen Besuch abzustatten und ihm Respekt zu zollen. Sie stürmten quer über das Klinikgelände zur Intensivstation. Der Verrückte Rajid schloss sich dem Pilgerzug an, und so blieben Dtui, Siri und sein alter Freund Dr. Nguyen allein im Sektionssaal zurück.
»Das lief ja wie am Schnürchen«, meinte der Vietnamese, »finden Sie nicht auch?«
»Ihren Bemühungen sei Dank«, sagte Siri. »Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Wie soll ich das je wiedergutmachen?«
»Mir wird schon etwas einfallen, keine Sorge. Sie könnten mir zum Beispiel ein paar dieser wunderschönen Schwestern überlassen.« Er bedachte Dtui mit einem Lächeln. »Aber jetzt muss ich wieder zurück zu meinen Leuten.«
Sie gaben sich lachend die Hand, und Nguyen marschierte fröhlich zur Tür hinaus.
»Tja«, sagte Dtui. »Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber Haengs langem Gesicht nach zu urteilen scheint es prima geklappt zu haben.«
Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten des Vorraums.
Haengs Bürovorsteherin Frau Manivone trat kopfschüttelnd ins grelle Neonlicht. Sie hatte aus sicherer Entfernung alles mit angesehen und kannte ihren Vorgesetzten nur zu gut.
»Das wird er Ihnen nie verzeihen.«
»Ich weiß«, sagte Siri schelmisch lächelnd.
»Im Ernst. Er kann Ihnen das Leben buchstäblich zur Hölle machen, Dr. Siri.«
»Er wird mich doch wohl nicht gleich entlassen und in die Provinz verbannen?«
»Das könnte Ihnen so passen.« Manivone lachte. Sie trat vor den Pathologen hin und schnupperte an seiner Wange. Der für Laoten typische berührungslose Kuss. »Ich muss Ihnen wohl nicht extra sagen, dass Sie mein Held sind«, sagte sie.
Siri drückte ihr die Hand, errötete leicht und verließ den Sektionssaal. Manivone schlang Dtui den Arm um die Schulter.
»Wie geht es Geung?«
»Er wird’s überleben«, sagte Dtui. »Heute Morgen sah er schon wieder so frisch aus, dass Dr. Siri mich gebeten hat, seiner Blässe mit Puder ein wenig nachzuhelfen.«
»Wollen wir nicht die Chefs tauschen?«, fragte Manivone.
»Nie im Leben, Schwester. Nie im Leben.«
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
»Disco for the Departed«
bei Soho Press, New York
Manhattan Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung
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