Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed
ringsum war alt und abgestanden. Die Geschichten der Menschen, die hier ihr Leben gelassen hatten, waren dem Gemäuer auf ewig eingeschrieben. Doch tief in der pechschwarzen Finsternis nahm Siri noch etwas anderes wahr – den frischen Geruch des Todes. Kurz darauf bemerkte ihn auch Dtui. Sie und Siri schalteten ihre Stirnlampen ein, und die drei Lichtstrahlen wanderten hin und her über zwölfhundert Quadratmeter kalten, grauen Steins. Die beiden alten Ärzte hatten unzählige Stunden in dieser verborgenen Halle zugebracht, und so verwunderte sie allein die Totenstille, das Fehlen jeglicher Geräusche – nirgends scharrte eine Ratte, nirgends zirpte eine Fledermaus. Als habe die Natur es nicht gewagt, die verlassene Höhle zu erobern.
Dtui hingegen kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und fragte sich, wie es den Ingenieuren in Kriegszeiten, im Sperrfeuer der Bomben gelungen war, diese unglaubliche Leistung zu vollbringen. Durch Kanäle im Zementfußboden gelangte Quellwasser aus den umliegenden Bergen in die Höhle. Links und rechts der Haupthalle lagen Operationssäle, Büroräume und ausgeklügelte Latrinen, durch die das Abwasser nach außen abgeleitet wurde. Da plötzlich erfasste der Lichtstrahl ihrer Lampe eine Gestalt auf dem Betonfußboden. Eine Leiche mit verrenkten Gliedern. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass es sich um eine Frau von Anfang zwanzig handelte. Ihrem Zustand nach zu urteilen war sie bereits seit über vierundzwanzig Stunden tot.
Direkt über ihr baumelte Unkraut aus einem Lüftungsschacht, einem kreisrunden Loch von etwa zwei Metern
Durchmesser. Siri wusste, dass der Schacht an einer Stelle in der Felswand endete, die aus der Vogelperspektive nicht zu sehen war; von dort wurde mittels einer Pumpe Frischluft ins Berginnere geleitet. Die Pumpe gab es längst nicht mehr, und zurückgeblieben war nichts weiter als ein Loch, ein nahezu unsichtbares Loch, in das die nichtsahnende Frau vermutlich beim Beerensammeln gestürzt war.
Santiago beugte sich über die Leiche und nahm die Tote in Augenschein. Als er zu sprechen begann, dolmetschte Dtui.
»Der Doktor ist schwer beeindruckt. Er würde gern wissen, wie Sie die Frau gefunden haben. Er bedauert allerdings, dass Sie Frau Panoy nicht mehr helfen können.«
»Nein«, sagte Siri und ließ seinen Lichtstrahl durch die Höhle wandern. »Das ist nicht Panoy. Zwar hat der Geist dieser Frau durch die alte Hmong zu uns gesprochen, aber dabei ging es gewiss nicht um sie selbst. Auf diese Art und Weise kann man nur kommunizieren, wenn man schon tot ist. Es muss also noch jemand anders hier sein.«
Dtui gab Siris Einwand an Santiago weiter, und zu dritt setzten sie ihre Suche fort. Das Wasser in dem alten Aquädukt war ins Dorf am Fuß des Berges umgeleitet worden. Durch die verbliebenen Kanäle floss immer noch ein schmales Wasserrinnsal. An einigen Stellen waren sie fast einen Meter tief, und dort stieß Santiago auf Panoy. Er rief ihren Namen und ließ sich neben ihr in den Kanal hinab. Sie war etwa vier Jahre alt. Sie war schwer verletzt und vom Hunger geschwächt, aber wie durch ein Wunder noch am Leben.
»Ich glaube, wir können sie retten«, rief Santiago den anderen zu. Er kletterte mit dem Mädchen im Arm aus dem Wassergraben und hastete auf die blaue Tür zu. Dtui
und Siri konnten kaum Schritt halten. Im Eingang blieben sie stehen und sahen dem alten Kubaner nach, der die Böschung hinab auf das Krankenhaus zueilte. Dtui legte Siri lächelnd den Arm um die Schulter.
»Gute Arbeit, Dr. Siri. Und wie sollen wir Santiago das alles erklären?«
»Obwohl ich für eine gute Lüge stets zu haben bin, fürchte ich, wir werden ihm die Wahrheit sagen müssen.«
»Meinen Sie wirklich? Lügen wäre vermutlich einfacher.«
»Ach, ich glaube kaum, dass der hagere alte Löwe sonderlich erstaunt sein wird. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass ihm all das nicht gerade neu ist.«
Sie wandte den Kopf, und der Strahl ihrer Lampe bohrte sich in die Stahltür. »Sagen Sie. Was ist das Ihrer Meinung nach für eine Farbe, Doc?«
»Grün.«
»Sie sind farbenblind, nicht wahr?«
»Wenn das kein Grün ist, muss ich wohl farbenblind sein. Mir graut bei der Vorstellung, was Frau Wunderlich mir noch alles vererbt hat.«
Panoy erwies sich als erstaunlich zäh. Gegen ihre gebrochenen Rippen ließ sich wenig machen, doch sie richteten ihr beide Arme und ein Fußgelenk, nähten zwei tiefe Schnittwunden und hängten sie an einen Tropf, der ihr die
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