Totentanz
Sohn Marco ging bei der Veranstaltung Ami Scabar zur Hand, die eine der vier international renommierten Küchenchefs war: Außer der Triestinerin hatten noch der Spanier Antonio Gras aus Murcia, die Katalanin Montsé Estruch aus Barcelona und Tomaz Kavčič aus dem Vippachtal ihr Können unter Beweis gestellt. Marco hatte gerade das erste Ausbildungsjahr hinter sich und war nach wie vor von seiner Berufsentscheidung begeistert. Seinen Eltern hatte er seit Wochen voller Stolz die Idee des Abends vorgetragen, bei dem er assistieren durfte, sowie Freikarten für sie besorgt. Selbst der Himmel riß auf, und die schweren Wolken, die am Nachmittag noch über der Stadt gehangen hatten, entluden sich nur über dem Hinterland. Ab Mitternacht leerte sich die Piazza allmählich, endlich kamen auch die Köche zum Essen, und Walter, der Wirt der »Malabar«, entkorkte die besonderen Flaschen, die er für die Kollegen reserviert hatte. Als etwas später die dumpfe Detonation aus nicht allzu großer Entfernung zu hören war, schauten alle nur kurz auf und wandten sich rasch wieder ihren Gläsern und Gesprächen zu. Mit dem ersten Licht der Morgendämmerung fuhren die Laurentis stadtauswärts nach Hause. Mit Verkehrskontrollen war um diese Zeit kaum mehr zu rechnen.
»Der Questore hat eine Sitzung für zehn Uhr anberaumt, der Präfekt um Mittag«, sagte Marietta, »ich nehme an, der Chef will euch einstimmen, bevor es zum Oberchef geht. Sonst gibt’s nichts, außer daß ich gerne den Nachmittag freinehmen würde, wenn einmal in dieser Saison die Sonne scheint.« Marietta nahm seine Tasse und stand auf.
»Wird das Sonnenbaden am Nudistenstrand mit den Jahren nicht ein bißchen unästhetisch?« murmelte Laurenti, warf Marietta einen hämischen Blick zu und griff nach den Akten auf seinem Tisch. »Ich meine, ihr kennt euch alle doch seit einer Ewigkeit.« Seit Jahren zog er sie mit ihrer Leidenschaft nach nahtloser Tiefenbräunung auf, und seit Jahren war sie davon überzeugt, daß er nur eifersüchtig war.
»Das hängt ganz von der Begleitung ab, Chef.« Marietta setzte eines ihrer charmantesten Lächeln auf und schloß die Tür hinter sich.
»Hast du schon wieder einen Neuen?« rief Laurenti hinter ihr her.
Die Tür öffnete sich wieder, Marietta lächelte verwegen. »Einen guten alten und einen wilden neuen. Wer zu spät kommt, der hat keine Geschichten. Und warum sollt eigentlich nur ihr Männer Spaß am Leben haben? Ich habe viel von dir gelernt, Proteo.«
Dann war die Tür endgültig zu. Laurenti kannte seine Assistentin länger als seine Frau. Und er hatte sich auch damit abgefunden, von ihr durchschaut zu werden. Sie wußte alles über ihn, auch wenn er sorgfältig darauf achtete, sich nicht zu verraten. Und beizeiten meinte sie sogar, seine Geheimnisse schon von seiner Laune ableiten zu können. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Doch diesmal konnte sie noch nicht auf dem laufenden sein. Es war ihm schon immer leichter gefallen, die schlechten Nachrichten besser zu verheimlichen als die guten. Laurenti sah Živa vor sich, wie sie ihm gestern in dem leeren Gasthaus bei Hrastovlje charmant lächelnd den Laufpaß gegeben hatte.
Er schüttelte heftig den Kopf, als könnte er sich damit von diesem Gedanken befreien, und überflog lustlos die Seiten über die Bombenexplosion der letzten Nacht, als Pina hereinstürmte. Wach, ausgeschlafen, unverkatert und ehrgeizig. Sie würde sicher eine steile Karriere machen, an Laurenti vorbeifliegen wie ein Ferrari an einem Cinquecento, und hoffentlich nie so rasant befördert werden, wie sie es anstrebte, solange Laurenti noch nicht pensioniert war. Kleingewachsene Chefs waren überall unerträglich. Aber die Inspektorin hatte in ihrer persönlichen Karriereplanung gewiß das Innenministerium als unterste Karrierestufe im Kopf, wenn sie nicht gar Päpstin werden wollte oder Chefin einer Weltbehörde zur Ausrottung alles Bösen.
Pina legte ungefragt los. Laurenti wußte, daß sie kein Detail auslassen würde. Er gab seinem Stuhl einen Stoß, rollte einen Meter zurück, legte die Füße auf die Schreibtischplatte und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
»Die M75 ist ein Relikt der Doppelmonarchie, bereits 1909 wurden Granaten dieser Bezeichnung hergestellt und in den Folgejahren weiterentwickelt. Hier handelt es sich um eine Splittergranate, die im ehemaligen Jugoslawien produziert wurde, in Bugojno in Zentralbosnien. Sie hat einen Kunststoffmantel, aus dem bei der
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