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Totentanz

Totentanz

Titel: Totentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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hochgewachsenen dünnen alten Mann mit dem riesigen Schädel gerade bis zur Brust. Der Text unter dem Bild war besonders ärgerlich. »Vor zwei Jahren wurde Dottore Oreste John Achille Galvano, 84, in Boston (USA) geboren, gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt. 1945 kam er mit den Alliierten nach Triest, stand fast sechzig Jahre im Dienste der Gerechtigkeit. Trotz seines Alters hat er noch immer die Leidenschaft bewahrt, die ihn als brillanten Gerichtsmediziner auszeichnete. Gestern diskutierte er mit Inspektorin Giuseppina Cardareto, 30, Kalabrierin, lautstark einen aktuellen Fall und zog dabei das Interesse vieler Passanten auf sich.«
    Mehr nicht. Offensichtlich hatte die Zeitung mangels wichtigerer Meldungen einen Füller gebraucht. Galvano klopfte mit dem zusammengefalteten Blatt ungeduldig gegen seinen Schenkel. Wie lange mußte er bloß heute morgen noch vor der Questura warten, bis Laurenti eintraf, der ihm dies alles eingebrockt hatte?
    *
    Auf der Piazza Garibaldi ging es zu wie an jedem frühen Morgen. Proteo Laurenti wollte den Platz in Augenschein nehmen, bevor er Maßnahmen plante, um den Forderungen des Präfekten und den Anweisungen des Questore zu genügen. Als sein Wecker kurz nach fünf Uhr klingelte, legte Laura ihren Arm um ihn und zog ihn zärtlich und schlaftrunken an sich. Vorsichtig befreite Laurenti sich, schlich aus dem Schlafzimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Nachdem es die ganze Nacht geschüttet hatte, stand nun kein Wölkchen am Himmel. Vespawetter. Er stibitzte die Schlüssel des Motorrollers seines Sohnes, der vor zehn Uhr nicht aufstehen würde, denn von seiner Arbeit in der Restaurantküche kam er erst spätabends los und stromerte danach meist mit Freunden durch die Bars der Stadt, die im Sommer bis in die frühen Morgenstunden geöffnet hatten. Laurenti würde die Vespa in zwei Stunden wieder zurückbringen. Balkantown belegte einige Straßenzüge hinter dem Ospedale Maggiore, und die Piazza Garibaldi war der Umschlagplatz für die Schwarzarbeiter, auf dem sich frühmorgens eine Menge Kleinunternehmer und Privatleute bedienten. Mit dem Motorroller war Proteo Laurenti beweglicher, konnte halten, wo er wollte, Notizen machen, unbemerkt mit Lauras Kamera ein paar Fotos schießen und rasch den Standort wechseln, bevor er auffiel.
    Die Leute taten ihm leid. Die meisten waren Serben und Kosovoalbaner. Hier standen sie gemeinsam, als hätte es keinen Krieg gegeben, und warteten auf die Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen. Die Männer konnten kaum Italienisch, außer »arbeiten, mauern, schleppen, putzen, aufräumen, Geld«. Sie waren sich für keine Arbeit zu schade, und für vier, fünf Euro die Stunde machten sie fast alles. Privatleute heuerten sie an, Handwerksbetriebe und auch renommierte Baufirmen, die enorme Profite einstrichen, weil sie den Kunden westeuropäische Stundensätze berechneten.
    Zwischen sechs und sieben herrschte Hochbetrieb, wer bis neun Uhr keine Arbeit gefunden hatte, brauchte sich für diesen Tag kaum mehr Hoffnungen zu machen. Proteo Laurenti war vor sechs Uhr da. Er kaufte sich die Tageszeitung und nahm einen Kaffee in der »Alí Babá Bar«. Er überflog die Meldungen und lachte laut über das Bild, das seinen Freund Galvano und Pina im wilden Disput zeigte. Über was die beiden wohl stritten? War Pina mit ihrer direkten Art dem Alten etwa auf den Schlips getreten? Galvano hatte bisher doch immer so gut von der kleinen Kollegin gesprochen, daß Laurenti sich schon fragte, ob er verliebt war. Laurenti würde ihn später vom Büro aus anrufen. Jetzt mußte er erst einmal eine Bestandsaufnahme machen. Er bezahlte, ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen und ging hinaus, um sich in der Menschenmenge umzuschauen, die in der Via della Raffineria vor dem unglaublich schönen Jugendstilgebäude mit der Hausnummer vier begann und bis zur Piazza Garibaldi reichte.
    Er fiel auf zwischen all den muskulösen Männern mit den zerschundenen Händen und den schlechten Zähnen. Sie warfen ihm skeptische Blicke zu. Würde er einen von ihnen ansprechen und ein Angebot machen?
    »He, du da«, rief ein Mann aus einem Mittelklassewagen. Er war drei Meter von Laurenti entfernt, der sich danach umsah, welcher Mann Glück hatte.
    »Heee. Duuu.« Es hupte zweimal.
    Jetzt sah Laurenti ihn winken. Er ging hinüber und bückte sich zum Seitenfenster hinunter.
    »Du. Keller putzen. Mauern neue Wand. Platten legen. Du können das?«
    »Du«, antwortete Laurenti.

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