Totentöchter - Die dritte Generation
aufgeht. Nur Cecily und ich sind an ihrer Seite. Nach Tagen in ihrem Bett, konnten wir nur noch mit ihr sprechen, wenn ihre Augen zuckend auf und zu gingen. Wir wollten sie wissen lassen, dass sie nicht allein ist. Nach all unseren gemeinsamen Monaten als Schwesterfrauen hätte ich ihr etwas Bedeutsames zu sagen haben müssen, aber am Ende konnte ich mich nur noch dazu überwinden, übers Wetter zu reden, während ich ihr beim Sterben zusah.
Und jetzt ist sie gegangen. Ihre Augen stehen noch offen, haben aber einen dunkleren Grauton angenommen. Leer. Wie eine Maschine, nachdem der Stecker gezogen wurde. Mit Daumen und Zeigefinger drücke ich die Lider herunter, dann küsse ich ihre Stirn. Sie ist noch warm. Ihr Körper sieht noch aus, als wollte sie gleich Luft holen.
Cecily steht auf und beginnt auf und ab zu laufen. Sie berührt ihre Stirn, ihre Brust. »Ich versteh das nicht«, sagt sie. »Es ist so schnell gegangen.«
Ich denke daran, wie froh sie war, als Rose starb. Wie sie sofort Anspruch darauf erhoben hatte, diejenige zu
sein, die Lindens Kind austragen wollte. Sie haben schon davon gesprochen, weitere zu bekommen.
»Hausprinzipal Vaughn hätte doch in der Lage sein müssen …«
»Sprich seinen Namen hier nicht aus«, sage ich wütend, aber ich weiß nicht, warum ich mich so über sie aufrege. Seit Jenna krank geworden ist, bin ich nicht mehr in der Lage, ihren Anblick zu ertragen, und ich weiß nicht genau, weshalb. Aber das ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um sich darüber Gedanken zu machen.
Ich streiche Jennas lange Haare hinter ihre Ohren zurück und versuche ihre Stille zu begreifen. Sie ist wie eine Wachsfigur, wo sie doch vor einer Minute noch ein lebendes Wesen war. Cecily steigt zu ihr ins Bett, sie vergräbt ihr Gesicht an Jennas Hals und sagt ihren Namen. Jenna, Jenna, Jenna. Immer und immer wieder, als ob das etwas nützen würde.
Es dauert nicht lange, bis Vaughn kommt, um Jennas Vitalfunktionen zu überprüfen. Er muss sich dem Bett nicht mal nähern. An Cecilys Tränen und daran, wie ich mit fernem Blick aus dem Fenster schaue, sieht er, dass unsere Schwesterfrau von uns gegangen ist. Er sagt, es sei schade, aber als er letzte Nacht nach ihr sah, habe er bereits gewusst, dass sie nicht mehr lange auf dieser Welt sein würde.
Als die Diener mit einer Bahre Jennas Leiche holen kommen, klammert Cecily sich immer noch an sie. Aber sie ist zu verstört, um zu protestieren, als Jennas Hand ihrem Griff entzogen wird. »Sei tapfer«, ist alles, was Cecily sagt.
Kurze Zeit später höre ich sie, wie sie im Wohnzimmer
einen wütenden Bach in d-Moll spielt. Die Töne sind wie die Schritte des Todes, die den Flur entlangdonnern.
Ich höre zu, während ich in meinem Zimmer auf dem Fußboden liege, so beraubt, dass ich es nicht mal bis zu meinem Bett schaffe. Ich stelle mir vor, dass diese großartige Musik aus Cecilys kleinem Körper strömt, dass die Noten sie in Rot und Schwarz umschweben – wie ein dunkler Flaschengeist, aus seinem Schlummer erwacht.
Ich warte darauf, dass ihre Musik abbricht. Ich warte darauf, dass sie an meiner Tür auftaucht und mit Tränen in den Augen fragt, ob sie eine Weile bei mir liegen kann, so wie sie es immer macht, wenn sie aufgebracht ist.
Aber sie kommt nicht. Stattdessen steht ihr wütendes, furchtloses Lied in meiner Tür.
Sei tapfer , scheint es zu sagen.
Ich will hier weg sein. Ich will jetzt fliehen. Ich halte es nicht mehr aus in diesem Haus, mit Vaughn, der wer weiß was mit der Leiche meiner Schwesterfrau anstellt, während von uns anderen erwartet wird, zu Abend zu essen und unseren Tee zu trinken. Cecily trägt Bowen herum, als wäre er ihre kleine Stoffpuppe. Die beiden sind ganz rot angelaufen vom Weinen. Er ist das unzufriedenste Baby auf diesem Planeten. Ist wahrscheinlich Intuition.
Innerhalb von Stunden gibt Vaughn uns Asche zum Verstreuen und Cecily klammert sich an die Urne. Sie will wissen, ob es in Ordnung wäre, wenn sie ihre Asche auf einem Regal in ihrem Zimmer aufbewahrte. Sie würde sich dann besser fühlen. Ich sage, dass ich nichts
dagegen habe, und im Stillen verachte ich sie für ihre Ahnungslosigkeit.
Am selben Abend liege ich im Bett und höre ein leises Klopfen an der Tür, aber ich antworte nicht. Zum einen, weil ich niemanden sehen will, aber hauptsächlich, weil ich Millionen Meilen von der Erde entfernt bin. Ich habe eine gefühlte Ewigkeit im Dunkeln gelegen und dem fernen Schluchzen eines Mädchens gelauscht,
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