Totentöchter - Die dritte Generation
das sich meiner Haut bemächtigt hat. Ich schwebe im All.
Als ich wieder mit meinen Sinnen verschmelze, sind die wimmernden Töne, die ich von mir gebe, schrecklich und unmenschlich.
Die Tür geht auf, mein Zimmer füllt sich mit Licht und ich rolle mich schützend zusammen, genau wie im Lastwagen. Plötzlich spüre ich, wie schwer mein Körper ist und wie wund meine Kehle von all dem Schreien. Mein Blick ist tränenverhangen.
»Rhine?«, sagt Linden. Seine Stimme ist mir kaum noch vertraut. Ich will ihn nicht sehen, und ich versuche ihm zu sagen, dass er weggehen soll, aber als ich den Mund aufmache, gebe ich nur diese unverständlichen Laute von mir. Er setzt sich auf die Bettkante und reibt mir den Rücken. Ich will ihn abschütteln, habe aber nicht die Kraft dazu.
»Mein Herz, du machst mir Angst. So habe ich dich noch nie gesehen.«
Das stimmt. Ich bin Rhine, das Waisenmädchen, das dazu ausgebildet wurde, seine Braut zu sein, das glücklich ist, hier zu sein. Vielleicht sollte ich seiner Vorstellung nach sogar froh sein, weil eine tote Schwesterfrau bedeutet, dass er mir mehr Zeit widmen kann. Aber ich bin
immer mehr Schwesterfrau gewesen als Ehefrau. Ich kann mir nicht vorstellen, allein mit ihm in dieser Ehe zu sein.
»Was kann ich für dich tun?« Er kniet neben dem Bett, streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Durch einen Tränenschleier starre ich ihn an. Gib mir die Freiheit, denke ich. Schick mich zurück ins letzte Jahr. Gib Jenna ihre Schwestern zurück.
Ich schüttele nur den Kopf. Ich bedecke mein Gesicht mit den Fäusten, doch er schiebt sie weg und ich leiste keinen Widerstand.
»Wir haben ein neues Jahr«, sagt er leise. »Morgen Abend findet eine Party statt. Würde dir das gefallen?«
»Nein«, keuche ich.
»Doch, das würde es«, sagt er. »Deidre arbeitet schon eifrig an einem Kleid und Adair hilft ihr dabei.«
Adair. Was wird aus ihm, nun, wo Jenna gegangen ist? Er hat für sie gearbeitet, nur für sie. Obwohl nicht viel zu tun war – Jenna war so genügsam, und sie hatte selten Grund, neue Kleider zu tragen. Vielleicht fühlt er sich nützlich, wenn er an meinem Kleid mitarbeiten kann. Das kann ich Adair nicht einfach wegnehmen. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und nicke, dass ich einverstanden bin.
»Na also. Schon besser«, sagt Linden. Doch in seinen Augen kann ich sehen, dass er weiß, wie ich leide. Möglich, dass mein Schmerz so groß ist wie seiner, als er Rose verloren hat. Er hat mit Sachen geworfen und geschrien, wir sollten alle verschwinden, als sie starb. Versteht er denn nicht, dass ich auch allein sein will?
Offensichtlich nicht. »Rück rüber«, sagt er leise, hebt die Decken an und steigt zu mir ins Bett. Als er mich an
seine Brust zieht, weiß ich nicht, ob es mich oder ihn trösten soll. Aber ich drücke mich in seine Arme und erliege gleich wieder meinen Tränen. Ich versuche, ins All hinauszuschweben, eine Weile von dieser elenden Welt zu verschwinden, aber die ganze Nacht halten seine zerbrechlichen Knochen mich hier eisern fest. Sogar, als ich in einen ruhelosen Schlaf hinübergleite, spüre ich, wie er mich mit mehr Kraft hält, als ich ihm zugetraut habe.
Wie erwartet, marschieren Deidre und Adair am folgenden Nachmittag mit einem atemberaubenden Kleid in mein Zimmer. In Manhattan hat kaum jemand einen Grund, an Festlichkeiten zum neuen Jahr teilzunehmen. So etwas ist hauptsächlich Erstgenerationern vorbehalten, die so reich und langlebig sind, dass sie etwas zu feiern haben. Es ist zudem eine Gelegenheit für Waisenkinder, in unbewachte Häuser in den »besseren« Vierteln einzubrechen. Rowan und ich hätten die ersten Nächte des neuen Jahres damit verbracht, die Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen und uns zu vergewissern, dass das Gewehr geladen ist. Sammler haben an diesen Tagen freie Auswahl. So viele betrunkene, hinreißende, mutterlose Mädchen tanzen im Park und verkaufen Wunderkerzen. Rowan wollte mich nicht mal aus dem Haus lassen, um zur Arbeit zu gehen, so gefährlich war es.
Rowan. Ich mache mir Sorgen. Wie es ihm wohl gehen mag, allein in diesem Haus, in dem ihm nur die Ratten beim Wachehalten beistehen?
Die Erstgenerationer wachsen und polieren mich auf Hochglanz und dann macht Deidre sich an mein Make-up, während Adair mein Haar um einen Lockenstab windet. Immer Locken. »Sie bringen deine Augen zur Geltung«,
sagt Adair versonnen. Deidre überzieht meine Lippen mit Rot und ich muss den Überschuss abtupfen.
Cecily
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