Totentöchter - Die dritte Generation
schlimm.
Am Morgen weckt mich Cecily tränenüberströmt. »Jenna will die Augen nicht aufmachen«, sagt sie. »Sie verbrennt.«
Cecily neigt zur Dramatik, aber nachdem ich im Halbschlaf zu Jennas Zimmer gestolpert bin, kann ich sehen, dass es noch schlimmer ist, als sie es beschrieben hat. Die Haut unserer Schwesterfrau ist blass geworden und hat einen schrecklichen gelblichen Stich bekommen. Blaue Flecken haben sich auf Hals und Armen ausgebreitet. Nein, blaue Flecken sind das nicht, eher eiternde Wunden. Ich berühre ihre Stirn und sie gibt einen kläglichen, krächzenden Laut von sich.
»Jenna?«, flüstere ich.
Cecily läuft händeringend auf und ab. »Ich hole Hausprinzipal Vaughn«, sagt sie.
»Nein.« Ich setze mich auf die Matratze und ziehe Jennas Kopf in meinen Schoß. »Geh ins Bad und hol einen nassen Waschlappen.«
»Aber …«
»Er kann nichts für sie tun, was wir nicht auch selbst tun können«, sage ich und bemühe mich um einen beruhigenden Ton.
Cecily tut, worum ich sie gebeten habe. Sie lässt das Wasser laufen und ich höre sie schluchzen. Doch sie ist gefasst, als sie mit dem nassen Waschlappen zurückkommt. Sie schlägt die Wolldecke zurück und knöpft den obersten Knopf von Jennas Nachthemd auf, um den fiebernden Körper zu kühlen. Dabei beobachte ich, wie sie sich anstrengt, die Panik in den Griff zu bekommen, die in ihren Augen steht. Sehen meine Augen auch so aus? Ich sitze hier, streiche beruhigend mit den Fingern durch Jennas Haar, aber mein Herz hämmert, mir ist schlecht. Das hier ist so viel schlimmer als das, was ich Rose habe durchmachen sehen. Sehr viel schlimmer.
Stunden vergehen und ich denke, das ist das Ende meiner Schwesterfrau. Nie wieder wird sie die Augen aufschlagen. Nicht mal ich hätte erwartet, dass es so schnell gehen würde.
Cecily legt den Arm um mich und vergräbt ihr Gesicht an meinem Hals. Aber ich habe keine tröstenden Worte für sie. Einfach nur weiterzuatmen, kostet mich all meine Kraft.
»Wir sollten Hausprinzipal Vaughn holen«, sagt sie zum dritten oder vierten Mal.
»Ich schüttele den Kopf. »Sie hasst ihn«, sage ich.
Und da lacht Jenna. »Genau«, sagt sie. Schwach und undeutlich, aber Cecily und ich fangen es auf und wir sehen das Lächeln auf Jennas lila angelaufenen Lippen. Ihre Augenlider zucken, sie schlägt die Augen auf. Ihr Blick ist nicht so temperamentvoll, wie er einmal war. Er wirkt gespenstisch und fern. Aber es ist noch Leben in ihren Augen. Sie ist noch bei uns.
»Hey«, gurrt Cecily, kniet sich ans Bett und umfasst mit beiden Händen Jennas Hand. »Wie fühlst du dich?«
»Großartig«, sagt Jenna und ihre Augen verdrehen sich, sie schließt sie.
»Können wir dir irgendetwas bringen?«, frage ich.
»Einen Tunnel aus Licht«, sagt sie, und ich glaube, sie versucht zu schmunzeln.
»Sag doch nicht so was«, sagt Cecily. »Bitte, tu das nicht. Ich kann dir vorlesen, wenn du möchtest. Ich bin so viel besser geworden.«
Jenna öffnet die Augen lang genug, sodass sie beobachten kann, wie Cecily eines der vielen Bücher auf dem Nachttisch durchblättert. Dann lacht sie wieder und dieses Mal klingt es noch qualvoller als zuvor. »Fürs Sterbebett ist das wohl kaum das Passende, Cecily.«
Ich halte das nicht aus. Ich sehe Jenna an, und alles, was ich sehe, ist dieses Ding, das sie umbringt. Diese Stimme klingt nicht mal wie ihre.
»Ist mir egal. Ich lese es trotzdem«, sagt Cecily. »In der Mitte steckt ein Lesezeichen, da fang ich an. Du solltest doch wenigstens erfahren, wie es endet.«
»Dann geh gleich zur letzten Seite«, sagt Jenna. »Ich habe schließlich nicht mehr ewig Zeit.« Und dann verkrampft
sich ihre Brust und Blut und Mageninhalt schießen ihr aus dem Mund. Ich drehe sie auf die Seite und reibe ihr den Rücken, während sie unter Anstrengungen alles heraushustet. Cecily ist erschüttert, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Wo Cecily die Energie herhat, so viel zu weinen, weiß ich nicht. Ich kann gerade genug mobilisieren, mich zu bewegen. Einfach lebendig zu sein, fühlt sich schon so anstrengend an, dass ich nur noch unter die Decke kriechen und schlafen möchte. Es ist unvorstellbar, dass ich je die Kraft hatte zu gehen.
Ich habe tagelang geschlafen, nachdem meine Eltern gestorben waren. Bis mein Bruder es nicht mehr ertragen konnte. Steh auf, hat er gesagt. Sie sind tot. Wir leben. Wir haben zu tun.
Jenna würgt und keucht. Durch ihr Nachthemd hindurch kann ich die einzelnen Wirbel ihres
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