Totentöchter - Die dritte Generation
Ort gewesen?
Die Diener räumen unsere Teller ab, und Linden runzelt die Stirn darüber, wie wenig ich gegessen habe.
»Du wirst selbst noch krank«, sagt er.
»Ich bin nur müde«, sage ich. »Ich glaube, ich gehe zu Bett.«
Oben steht die Tür zu Cecilys Zimmer offen und ich höre Bowen. Er atmet auf diese rhythmisch kratzige Art wie alle Neugeborenen. Das Licht ist ausgeschaltet und vielleicht liegt er wach in seiner Wiege, während Cecily schläft. Ich kenne seine Gewohnheiten. Kümmert man
sich nicht um ihn, wenn er von einem Schläfchen aufwacht, fängt er unweigerlich an zu schreien. Und wenn er schreit, hört er nicht wieder auf.
Eigentlich wollte ich selbst etwas Schlaf abbekommen, aber ich halte es für besser, Bowen aus seiner Wiege zu holen, bevor er meine Schwesterfrauen weckt. Doch als ich ins Zimmer gehe, sitzt Jenna auf der Bettkante, im Schein eines Lichtstreifens vom Flur. Ihr langes Haar fällt ihr über die Schultern und ihr Gesicht ist dem Baby in ihren Armen zugewendet. Hinter ihr liegt Cecily ruhig schlafend unter der Decke.
»Jenna?«, flüstere ich.
Sie lächelt, ohne den Kopf zu heben.
»Er sieht aus wie unser Ehemann«, sagt sie leise. »Aber an seinem Temperament merke ich, dass er wird wie Cecily. Schade, dass keine von uns das erleben wird.«
So sieht sie wunderschön aus. Die Dunkelheit verbirgt ihre Blässe und die lila angelaufenen Lippen. Ihr Nachthemd besteht aus Lage um Lage Spitze und ihr Haar ist wie ein perfekter dunkler Vorhang. Ich werde von der schmerzlichen Erkenntnis getroffen, dass sie aussieht, als könnte sie Mutter sein. Eine Bezugsperson. Geschickt und sanft, mit langen, tüchtigen Fingern, die über Bowens Halbmondgesicht streichen. Ob sie sich wohl um ihre Schwestern – vor deren Ermordung – ebenso gekümmert hat wie um Cecily? Wie um mich?
Ich schwöre, ich habe eben eine Träne aus ihrem Augenwinkel rollen sehen, doch sie wischt sie weg, ehe sie weit kommen kann.
»Wie geht es dir?«, frage ich.
»Ganz gut«, sagt sie.
Ich zwinge mich, ihr zu glauben. Jetzt gerade wirkt sie so stark, so jung.
»Hier, nimmst du ihn mal eine Weile?« Sie steht auf, und während sie auf mich zugeht, kann ich sehen, wie ihr die Knie zittern. Sie kommt näher und in der Flurbeleuchtung sehe ich die Schweißperlen auf ihrem Gesicht, die blauen Schatten unter ihren Augen.
Ich lasse mir von ihr das Baby in die Arme legen und wie ein Geist schwebt sie an mir vorbei – über die Stelle hinweg, wo sie mit dem verblüfften Diener geflirtet hat, wo sie Hunderte von Malen mit der Nase in einem Liebesroman entlanggegangen ist.
Ihre Hand stützt sich an der Wand ab, auf dem Weg zurück in ihr Zimmer, und sie schließt die Tür. Augenblicke später höre ich ihr qualvolles Husten.
Auf Bowen macht ihre Abwesenheit keinen Eindruck, er ist eingeschlafen. Ich beneide ihn um seine Selbstzufriedenheit. Ich beneide ihn um die fünfundzwanzig Jahre, die ihm noch bleiben.
Später schließe ich die Tür zu meinem Zimmer. Ich mache die Lichter aus. Ich grabe mein Gesicht in die Kissen und schreie und schreie, bis alles taub ist und ich Arme und Beine nicht mehr spüre – wie Jenna. Und die Stille hämmert auf mich ein. Rowan, meine Eltern, Rose, der Hafen von Manhattan. Dinge, die ich vermisse. Dinge, die ich liebe. Dinge, die ich zurückgelassen habe oder die mir entglitten sind. Ich will, dass meine Mutter mir einen Gutenachtkuss gibt. Ich will, dass mein Vater Klavier spielt. Ich will, dass mein Bruder Wache hält, während ich schlafe, dass er mir einen Schluck Wodka gibt, wenn der Schmerz zu stark ist. Ich vermisse ihn. Ich
habe mir so lange nicht erlaubt, ihn zu vermissen, aber jetzt kann ich nicht anders. Ein Schleusentor hat sich geöffnet. Und ich bin so müde und allein, und ich weiß nicht, ob ich je wirklich werde fliehen können. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, das Eisentor mit der spitzen Blüte zu öffnen. Ich wische meine Tränen mit Gabriels Taschentuch weg, das ich so lange schon in meinem Kissenbezug verstecke. In der Dunkelheit spüre ich die Stickerei darauf und schluchze, bis meine Kehle ganz wund ist, und ich hoffe, ich hoffe, hoffe, hoffe nur, dass ich es bis nach Hause schaffe.
Ich träume, dass ich ins Meer geworfen werde. Ich träume vom Ertrinken, dieses Mal jedoch schlage ich nicht um mich oder kämpfe um mein Leben. Ich versinke. Und nach einer Weile, in der Stille unter Wasser, höre ich die Musik meines Vaters und es ist gar nicht so
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