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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hasse. Gestern Abend musste ich all meine Willenskraft aufwenden, um ihn nicht die Toilette hinunterzuspülen. Doch wenn ich sein Vertrauen gewinnen will, muss ich ihn tragen.
    »Du kennst Japan. Was weißt du noch von der Welt?«, fragt er.
    Ich will ihm nicht vom Atlas meines Vaters erzählen, den mein Bruder und ich mit unseren Wertsachen in einer Truhe eingeschlossen haben. Jemand wie Linden hat es nicht nötig, irgendetwas Kostbares einzuschließen, abgesehen von seinen Bräuten. Er würde den Irrsinn ärmerer, verzweifelterer Gegenden nicht begreifen.

    »Nicht viel«, sage ich. Und ich täusche Unwissenheit vor, als er mir von Europa zu erzählen beginnt, von einem Uhrturm namens Big Ben – ich erinnere mich an das Foto davon, wie er in der Dämmerung inmitten der Hektik von London leuchtet – und ausgestorbenen Flamingos, deren Hälse so lang waren wie ihre Beine.
    »Rose hat mir das meiste davon beigebracht«, gibt er zu und dann, gerade als das Sonnenlicht die Rot- und Grüntöne des Gartens weckt, wendet er den Blick ab. »Du darfst wieder hineingehen«, sagt er. »Ein Diener erwartet dich, der dich nach oben bringt.« Seine Stimme erstirbt am Ende des Satzes, und ich weiß, dass das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, sitzen zu bleiben und so zu tun, als würde ich ihn anbeten.
    Den Weg zurück zur Hintertür finde ich allein. Linden überlasse ich seinem neuen Tag, damit er an Rose denken kann, deren Sonnenaufgänge gezählt sind.
    In den folgenden Tagen schenkt Linden seinen Bräuten kaum Beachtung. Die Türen unserer Zimmer bleiben unverriegelt und größtenteils sind wir uns selbst überlassen. Wir dürfen auf unserer Etage umherwandern, auf der es eine eigene Bibliothek und ein Wohnzimmer gibt – jedoch nicht viel mehr. Es ist uns nicht erlaubt, den Fahrstuhl zu benutzen, es sei denn, Linden lädt uns zum Abendessen ein, was selten geschieht. Unsere Mahlzeiten werden uns üblicherweise auf Tabletts in den Zimmern serviert. Ich verbringe viel Zeit in einem Sessel in der Bibliothek und blättere durch Seiten mit glänzenden Bildern von Blumen, die in dieser Welt nicht länger wachsen, und solchen, die in anderen Teilen des Landes noch zu finden sind. Ich informiere mich über die Polkappen,
die vor langer Zeit im Krieg verdampft sind, und über einen Forscher namens Christoph Kolumbus, der bewiesen hat, dass die Erde rund ist. In meinem Gefängnis vertiefe ich mich in die Geschichte einer freien und grenzenlosen Welt, die längst Vergangenheit ist.
    Meine Schwesterfrauen sehe ich nicht oft. Manchmal sitzt Jenna neben mir auf einem Sofa und sieht von ihrem Roman auf, um sich zu erkundigen, was ich lese. Ihre Stimme klingt schüchtern, und wenn ich aufsehe, zuckt sie zusammen, als würde sie mit Schlägen rechnen. Aber hinter dieser Furchtsamkeit steckt mehr – die Überreste eines gebrochenen Menschen, der einmal selbstsicher, stark und tapfer war. Ihr Blick ist oft getrübt und Tränen stehen ihr in den Augen. Unsere Wortwechsel sind wohlüberlegt und kurz, nie länger als ein oder zwei Sätze.
    Cecily beklagt sich, dass das Waisenhaus keine gute Arbeit geleistet hat, als man ihr das Lesen beibrachte. Eifrig sitzt sie mit einem Buch an einem der Tische, buchstabiert ab und zu ein Wort und wartet dann ungeduldig darauf, dass ich es laut ausspreche und ihr manchmal auch die Bedeutung erkläre. Obwohl sie erst dreizehn ist, besteht ihre Lieblingslektüre aus Büchern über Geburt und Schwangerschaft.
    Doch bei all ihren Schwächen ist Cecily so etwas wie ein musikalisches Wunderkind. Gelegentlich höre ich, wie sie auf dem Keyboard im Wohnzimmer spielt. Das erste Mal, als es mich an die Schwelle zog, war es weit nach Mitternacht. Da saß sie dort, diese kleine Gestalt mit den flammend roten Haaren, gefangen in einem Hologramm von wirbelnden Schneeflocken, das irgendwie vom Keyboard projiziert wurde. Doch Cecily, die von
der falschen Pracht dieses Anwesens so geblendet ist, spielte mit geschlossenen Augen. Ganz in ihr Konzert versunken, war sie nicht mehr meine kleine Schwesterfrau mit dem Schmetterlingskleid oder das Mädchen, das Tafelsilber nach den Dienern wirft, die ihr in den Weg kommen, wenn sie einen schlechten Tag hat, sondern eher ein Wesen aus einer anderen Welt. In ihr steckte keine tickende Zeitbombe, keine Spur dieses furchtbaren Dings, das sie in ein paar kurzen Jahren töten wird.
    Nachmittags ist ihr Spiel mutwilliger. Dann schlägt sie in unsinniger Folge auf die Tasten ein,

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