Totentöchter - Die dritte Generation
war in der Lage, dieses Leben zu akzeptieren, unseren Ehemann zu lieben. Ich werde hier herauskommen, und wenn ich dabei draufgehe.
Nach diesem Tag sprechen Rose und ich nicht mehr von Flucht. Sie zieht mich den anderen Ehefrauen vor, die noch nie mit ihr geredet haben. Jenna redet so wenig wie möglich und Cecily hat mich schon mehr als einmal gefragt, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, Lindens sterbende Frau kennenzulernen. »Sie wird sterben und dann wird er sein Augenmerk mehr auf uns richten«, sagt sie, als wäre das etwas, worauf man sich freuen könnte. Es widert mich an, dass Roses Leben ihr so wenig bedeutet, doch etwas Ähnliches hat mein Bruder über das Waisenkind gesagt, das wir letzten Winter erfroren auf unserer Veranda gefunden haben.
Tränen schossen mir in die Augen, als ich die Leiche entdeckte. Mein Bruder fand jedoch, wir sollten sie nicht sofort wegräumen. Sie könne anderen als Warnung dienen, die vorhätten, in unser Heim einzubrechen. »Mit den Schlössern haben wir so gute Arbeit geleistet, dass sie eher umkommen als hineinkommen«, sagte er.
Notwendigkeit. Überleben. Die oder wir. Tage später, als ich vorschlug, die Leiche zu beerdigen – ein kleines Mädchen in einem abgetragenen karierten Mantel –, half er mir, sie zum Müllcontainer zu schleppen. »Dein Problem ist, dass du zu gefühlsbetont bist«, sagte er. »Das macht dich zur Zielscheibe.«
Nun, dieses Mal vielleicht nicht, Rowan. Dieses Mal hilft es vielleicht, Gefühle zu zeigen, denn Rose und ich reden stundenlang miteinander, und ich genieße diese
Unterhaltungen, weil ich sicher bin, dass ich die Gelegenheit nutzen, alles über Linden lernen und schließlich seine Gunst gewinnen kann.
Aber aus Tagen werden Wochen, und ich spüre, dass eine echte Freundschaft zwischen uns entsteht. Das sollte eigentlich das Allerletzte sein, was ich mir von einer Sterbenden wünsche. Und doch, ich genieße ihre Gesellschaft. Sie erzählt mir von ihrer Mutter und ihrem Vater, Erstgenerationern, die bei irgendeinem Unfall ums Leben gekommen sind, als Rose noch klein war. Sie waren enge Freunde von Lindens Vater und deshalb wurde Rose in diesem Haus aufgenommen und ist dann Lindens Frau geworden.
Sie erzählt mir, dass Lindens Mutter, Hausprinzipal Vaughns jüngere zweite Frau, bei Lindens Geburt gestorben ist. Und Vaughn war so in seine Forschung vertieft – von Anfang an so davon besessen, das Leben seines Sohnes zu retten –, dass er sich nie darum bemüht hat, sich eine andere Frau zu nehmen. Deswegen hätte man sich vielleicht über ihn lustig gemacht, sagte Rose, wenn er nicht so ein fähiger Arzt wäre und so vernarrt in seine Arbeit. Er besitzt ein gut gehendes Krankenhaus in der Stadt und ist einer der führenden Genforscher dieser Region. Sie erzählt mir, dass Hausprinzipal Vaughns erster Sohn die vollen fünfundzwanzig Jahre gelebt hat und längst tot und begraben war, als Linden zur Welt kam.
Das, glaube ich, ist etwas, was ich mit meinem neuen Ehemann gemein habe. Bevor mein Bruder und ich geboren wurden, hatten meine Eltern zwei Kinder, auch Zwillinge, die blind zur Welt kamen und nicht sprechen konnten. Ihre Glieder waren verkrüppelt und sie erlebten
ihren fünften Geburtstag nicht. Genetische Abweichungen wie diese sind selten wegen der Perfektion der Erstgenerationer, aber sie kommen durchaus vor. Man nennt sie Missbildungen. Anscheinend waren meine Eltern nicht in der Lage, Kinder ohne genetische Besonderheiten zu bekommen. Allerdings habe ich jetzt wohl allen Grund, dankbar für meine Heterochromie zu sein. Sie dürfte mir einen Kopfschuss auf der Ladefläche dieses schrecklichen Lastwagens erspart haben.
Rose und ich unterhalten uns auch über erfreulichere Dinge, zu Beispiel Kirschblütenbäume. Ich fasse sogar genug Vertrauen zu ihr, dass ich ihr vom Atlas meines Vaters erzähle und von meiner Enttäuschung darüber, die Welt zu ihren besten Zeiten verpasst zu haben. Während sie mir das Haar zu Zöpfen flicht, erzählt sie mir, dass sie Indien gewählt hätte, hätte sie sich aussuchen können, wo auf der Welt sie leben wollte. Sie hätte Saris getragen, sich von oben bis unten mit Henna bemalt und wäre vielleicht auf einem mit Juwelen geschmückten Elefanten durch die Straßen geritten.
Ich lackiere ihre Nägel rosa und sie arrangiert Schmucksteine von einer Stickerfolie auf meiner Stirn.
Dann eines Nachmittags, als wir nebeneinander auf dem Bett liegen und uns mit bunten Bonbons vollstopfen,
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