Totentöchter - Die dritte Generation
stehen und dreht sich müßig hin und her, damit ihr Rock sich bauscht. »Ich hab unserem Ehemann nicht erzählt, dass du dich mit diesem Diener davongemacht hast«, sagt sie. »Hätte ich tun können, hab ich aber nicht.«
Und dann hüpft sie davon, eine knallrote Fadenspur hinter sich herziehend.
In dieser Nacht kommt Linden in mein Zimmer.
»Rhine?«, sagt er leise, nur ein Schatten in der Tür.
Es ist spät und ich liege schon seit Stunden allein in der Dunkelheit, rüste mich für eine Nacht, von der ich von Anfang an wusste, dass sie schrecklich werden würde. Obwohl Rose nicht mehr da ist, habe ich auf Geräusche von ihr am Ende des Korridors gelauscht – dass sie mit einem Diener schimpft oder mich ruft, damit ich ihr das Haar bürste und mit ihr über die Welt rede. Die Stille ist zum Verrücktwerden, und das ist vielleicht der Grund dafür, dass ich Linden die Decke aufhalte, anstatt Tiefschlaf vorzutäuschen oder ihn zu ignorieren.
Er schließt die Tür und steigt in mein Bett. Ich spüre seine kühlen, schlanken Finger auf meinen Wangen, als er sich neben mich legt. Er rückt näher, will mir meinen ersten Kuss geben, aber seine Lippen versagen. Er schluchzt und ich fühle die Hitze seines Gesichts und seines Atems. »Rose«, sagt er. Es ist ein gepresster, verängstigter Laut. Er vergräbt das Gesicht an meiner Schulter und lässt den Tränen freien Lauf.
Ich verstehe Kummer. Nach dem Tod meiner Eltern ähnelten viele meiner Nächte dieser. Daher werde ich ihm dieses eine Mal keinen Widerstand leisten. Ich gestatte
ihm, in meinem Bett Zuflucht zu finden, und er darf sich an mich klammern, als der schlimmste Schmerz hochkommt.
Seine Schreie werden von meinem Nachthemd gedämpft. Furchtbare Laute. Ich spüre sie bis ins Mark. So geht es immer weiter, stundenlang, wie es sich für mich anfühlt, dann atmet er tiefer, umklammert mein Nachthemd nicht mehr ganz so fest – und ich weiß, dass er eingeschlafen ist.
Den Rest der Nacht verbringe ich damit, immer wieder aus meinem unruhigen Schlaf aufzuwachen. Ich träume von Schüssen und grauen Mänteln und von Roses Mund, der die Farbe wechselt. Schließlich falle ich in einen tieferen Schlaf, und als ich vom Drehen des Türknaufs wach werde, ist es Morgen. Mildes Licht und der Gesang früher Vögel erfüllt den Raum.
Gabriel kommt mit meinem üblichen Frühstückstablett herein und bleibt wie angewurzelt stehen, als er Linden in meinem Bett sieht. Irgendwann in der Nacht hat Linden sich von mir weggedreht. Jetzt schnarcht er leise und sein Arm hängt über den Rand der Matratze. Stumm fange ich Gabriels Blick auf und lege einen Finger an die Lippen. Mit demselben Finger zeige ich dann auf meinen Frisiertisch.
Es ist unmöglich, Gabriels Miene zu deuten, als er mein Frühstück dort absetzt, wo ich hingezeigt habe. Irgendwie wirkt er so verletzt wie an dem Tag, an dem er humpelte und blaue Flecken hatte. Ich weiß nicht recht, aus welchem Grund er so guckt, bis ich begreife, wie das für ihn aussehen muss. Rose ist noch keinen Tag tot und schon habe ich sie ersetzt. Aber was geht ihn das an? Er
hat doch selbst gesagt, dass sowieso keiner der Diener Rose wirklich gemocht hat.
Lautlos danke ich ihm für das Frühstück und er nickt und geht. Später, vielleicht wenn er mich in der Bibliothek besucht, werde ich ihm erklären, was wirklich geschehen ist. Langsam begreife ich, dass Rose tot ist, und ich habe das Gefühl, dass ich sehr bald jemanden zum Reden brauchen werde.
Ich bin vorsichtig beim Aufstehen. Das Beste wird sein, Linden weiterschlafen zu lassen. Er hatte eine so unruhige Nacht und ich hatte auch schon bessere. Leise ziehe ich die Schublade meines Nachttischs auf, fische mir eine der Junibeeren aus der Papiertüte und trete ans Fenster. Es lässt sich immer noch nicht öffnen, aber das Brett ist als Sitzplatz breit genug.
Da hocke ich und sehe in den Garten, während ich das Bonbon lutsche, das genauso grün ist wie der gemähte Rasen unter meinem Fenster. Von hier habe ich eine perfekte Sicht auf den Pool, wo jemand in Dienstbotenuniform ein langes Netz ins Wasser taucht. Das Sonnenlicht trifft auf die Wasseroberfläche und bricht sich. Es funkelt wie Diamanten. Ich denke an den Ozean, den man an den Piers von New York sehen kann. Vor langer Zeit gab es da Strände, aber jetzt sind dort Betonflächen, die enden, wo das Meer beginnt. Man kann fünf Dollar in ein rostiges Teleskop stecken und bis zur Freiheitsstatue sehen oder zu einer
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