Totentöchter - Die dritte Generation
der Geschenkelädeninseln mit der hellen Beleuchtung, den Schlüsselketten und Fotoständen. Mit einer Doppeldeckerfähre kann man am Pier entlangfahren, während ein Fremdenführer über die Veränderungen des Stadtbilds im Laufe der Jahrhunderte spricht.
Man kann unter der Reling durchrutschen, die Schuhe ausziehen und die nackten Füße in das trübe Wasser stecken, das versalzt ist und dessen Fische man lieber nicht essen sollte – sie zu fangen, ist für die Angler nur ein Sport; anschließend werfen sie sie wieder rein.
Das Meer hat mich immer fasziniert, einen Fuß unter seine Oberfläche zu stecken und zu wissen, dass ich die Ewigkeit berühre, dass es ewig so weitergeht, bis es hier wieder anfängt. Irgendwo darunter liegen die Ruinen des bunten Japan und von Roses Lieblingsland Indien, von den Nationen, die nicht überleben konnten. Dieser einsame Kontinent ist alles, was noch übrig ist, und die Dunkelheit des Wassers ist so geheimnisvoll, so verlockend, dass mir das helle Wasser im Pool viel zu belanglos vorkommt. Sauber und glitzernd und sicher. Ob Linden je das Meer berührt hat? Ob er weiß, dass dieses farbenfrohe Paradies eine Lüge ist?
Hat Rose diesen Ort je verlassen? Sie hat von der Welt gesprochen, als hätte sie sie mit eigenen Augen gesehen, aber wie weit ist sie über den Orangenhain hinausgekommen? Ich hoffe, jetzt ist sie irgendwo, wo es blühende Inseln und Kontinente gibt, wo man viele Sprachen lernt und auf Elefanten reitet.
»Auf Wiedersehen«, flüstere ich und wende das Bonbon mit der Zunge. Es schmeckt nach Pfefferminz. Ich hoffe, dass sie auch jede Menge Junibeeren hat.
Vom Bett her ist ein Schnaufen zu hören, Linden wirft sich auf den Rücken, stützt sich dann auf die Ellenbogen. Seine Locken sind zerwühlt, die Augen geschwollen und er schaut verwirrt. Einen Moment lang sehen wir uns an, und ich bemerke, wie er sich bemüht, mich zu erkennen.
Er scheint so weit weg, dass ich mich frage, ob er vielleicht noch schläft. In der Nacht hat er manchmal die Augen weit aufgerissen und mich angesehen, dann ist er wieder weggedämmert und hat etwas von Gartenscheren gemurmelt und wie gefährlich Bienen sind.
Jetzt liegt ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen. »Rose?«, krächzt er.
Dann muss er jedoch wacher werden, denn er sieht am Boden zerstört aus. Ich starre aus dem Fenster und weiß nicht recht, was ich mit mir anfangen soll. Irgendwie bedauere ich ihn, aber stärker als mein Mitleid ist mein Hass. Wegen dieses Ortes, wegen der Schüsse, die mich bis in meine Träume verfolgen. Warum sollte ich ihn trösten? Nur weil mein Haar so blond ist wie das seiner toten Frau? Auch ich habe die Menschen verloren, die ich liebe. Wer tröstet mich?
Nach einer langen Pause sagt er: »Dein Mund ist grün.« Er setzt sich auf. »Woher hast du die Junibeeren?«
Die Wahrheit kann ich ihm nicht sagen. Ich will nicht riskieren, Gabriel wieder in Schwierigkeiten zu bringen. »Rose hat sie mir geschenkt. Neulich, sie sind aus der Schale in ihrem Zimmer.«
»Sie hat dich gerngehabt«, sagt er.
Ich will nicht mit ihm über Rose reden. Die Nacht ist vorüber und ich werde nicht länger sein Trost sein. In der Nacht, als wir beide verletzlich waren, war ich nachsichtiger, doch jetzt bei Tageslicht ist wieder alles klar. Ich bin immer noch seine Gefangene.
Aber völlig kalt kann ich nicht sein. Ich darf meine Verachtung nicht zeigen, wenn er mir je vertrauen soll.
»Schwimmst du?«, frage ich.
»Nein«, sagt er. »Magst du das Wasser?«
Als Kind, sicher in der Obhut meiner Eltern, bin ich immer in der Schwimmhalle des Sportklubs unseres Stadtteils geschwommen, habe nach Ringen getaucht und versucht, meinen Bruder im Saltospringen zu übertrumpfen. Es ist schon Jahre her, dass ich das letzte Mal dort war. Die Welt ist seitdem zu gefährlich geworden. Nachdem das einzige Forschungslabor der Stadt bombardiert worden war, die Jobs und die Hoffnung auf ein Gegenmittel mit einem Schlag dahin waren, ging es rapide bergab. Es hat einmal eine Zeit gegeben, als die Wissenschaft voll Optimismus war, ein Gegenmittel zu finden. Aber aus Jahren wurden Jahrzehnte und noch immer sterben die neuen Generationen. Und die Hoffnung stirbt schnell, wie wir alle.
»Ein bisschen«, sage ich.
»Dann muss ich dir den Pool zeigen«, sagt Linden. »So was hast du noch nicht erlebt.«
Von hier aus sieht der Pool gar nicht so besonders aus, aber ich denke an die Wirkung der Badeseifen auf meiner Haut und an den
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