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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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meinen Nachttisch, und wenn ich noch schlafe, spüre ich seine Gegenwart im Traum. Ich spüre eine warme Verbindung, die bis in mein Unterbewusstsein reicht, und ich fühle mich sicher. Ich schlage die Augen auf, sehe die silberne Haube des Frühstückstabletts und weiß, er war da.
    An den Morgen, an denen ich wach bin, reden wir mit leisen Stimmen, wobei wir unsere Gesichter in der Dunkelheit kaum erkennen können. Er erzählt mir, dass er schon Waise ist, solange er zurückdenken kann, und dass Hausprinzipal Vaughn ihn auf einer Auktion gekauft hat, als er neun war. »Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört«, sagt Gabriel. »In Waisenhäusern lernt man
nützliche Dinge wie Kochen, Nähen, Saubermachen. Sie führen da eine Art Akte über die Kinder – und dann können die Wohlhabenden bieten. So haben wir Deidre, Elle und Adair auch bekommen.«
    »Du erinnerst dich nicht an deine Eltern?«, frage ich.
    »Kaum. Ich kann mich nicht mal mehr wirklich erinnern, wie die Welt außerhalb dieses Anwesens aussieht«, sagt er.
    Mir sinkt der Mut. Keiner, erzählt er mir, nicht mal die Dienerschaft, verlässt den Besitz. Lieferungen von Essen und Stoff und allem, was man sich nur denken kann, werden bestellt, niemand besucht die Geschäfte selbst. Die Einzigen, die das Anwesen verlassen können, sind die Fahrer der Lieferwagen, Hausprinzipal Vaughn und manchmal Linden, wenn ihm danach ist.
    Ich habe Hauswalter und ihre Ersten Frauen bei gesellschaftlichen Ereignissen im Fernsehen gesehen – politische Wahlen, Eröffnungszeremonien, solche Sachen –, aber Gabriel erzählt mir, dass Linden nicht der gesellige Typ ist. Er ist so eine Art Einsiedler. Und warum auch nicht? Man könnte den ganzen Tag unterwegs sein und wäre immer noch nicht von einem Ende des Anwesens zum anderen gelangt. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Linden hat Rose immerzu auf Partys mitgenommen, und sie hat gesagt, wenn ich sein Liebling werde, wird er mich überall hinführen, wo ich hingehen will.
    »Fehlt es dir nicht?«, frage ich. »Frei zu sein?«
    Er lacht. »Im Waisenhaus war es auch nicht viel freier, aber ich glaube, der Strand fehlt mir. Den konnte ich von meinem Fenster aus sehen. Manchmal durften wir hingehen.
Ich habe die Boote so gern hinausfahren sehen. Ich glaube, wenn ich hätte machen können, was ich wollte, hätte ich gern auf einem Boot gearbeitet. Vielleicht sogar eins gebaut. Aber ich habe noch nie auch nur einen Fisch gefangen.«
    »Mein Bruder hat mir das Angeln beigebracht«, sage ich.
    Wir haben immer auf der Betonmauer gesessen, die das Meer zurückhält, und die Füße über die Kante baumeln lassen. Ich erinnere mich noch an das starke Ziehen an der Angelschnur und wie die Spule außer Kontrolle geriet. Rowan musste sie für mich übernehmen und mir zeigen, wie man sie einholt. Ich erinnere mich an den muskulösen silbernen Fischleib – wie eine Zunge, die am Haken zappelt – die weit offenen Augen. Ich hab ihn vom Haken gelöst und versucht, ihn zu halten, aber er ist mir aus der Hand gesprungen. Mit einem Platscher traf er aufs Wasser auf und war verschwunden. Weg, um die Ruinen von Frankreich oder vielleicht Italien zu besuchen und sie von mir zu grüßen.
    Diese Erfahrung versuche ich an Gabriel weiterzugeben, und obwohl ich glaube, dass ich ihm nicht besonders gut demonstriere, wie ich die Angelschnur eingeholt und vergebens versucht habe, den Fisch festzuhalten, hört er genau zu. Als ich das Platschen nachahme, mit dem der Fisch ins Wasser gefallen ist, lacht er sogar und ich lache auch, leise, in der Dunkelheit meines Zimmers.
    »Hast du mal gegessen, was ihr gefangen habt?«, fragt er.
    »Nein. Essbaren Fang gibt es nur weiter draußen und der wird mit dem Boot eingeholt. Je näher am Land,
desto giftiger das Wasser. Wir haben das nur aus Spaß gemacht.«
    »Hört sich lustig an«, sagt er.
    »Ehrlich gesagt, es war irgendwie eklig«, sage ich und denke an die kalten, schleimigen Schuppen und die blutunterlaufenen Augen.
    Rowan erklärte mich zum schlechtesten Angler aller Zeiten und meinte, wir könnten von Glück sagen, dass diese Fische ungenießbar wären, denn wenn wir uns davon ernähren müssten, würden wir meinetwegen verhungern. »Aber das gehört zu den wenigen Dingen, die mein Bruder gern macht – und die nichts mit Arbeit zu tun haben.«
    Das Heimweh, das mit den Erinnerungen an meinen Bruder aufkommt, ist nicht so schlimm. Nicht solange Gabriel mir Gesellschaft leistet

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