Totentöchter - Die dritte Generation
eigentlich erinnert mich der Geruch an Zuhause und weckt meinen Appetit wieder.
»Wir haben größere Probleme als deine Essensgewohnheiten«, erklärt die Chefköchin. Sie wischt sich eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht und nickt Richtung Fenster.
Der Himmel hat eine seltsam grüne Farbe angenommen. Blitze zucken durch die Wolken. Vor weniger als
einer Stunde schien noch die Sonne und die Vögel sangen.
Jemand bietet mir ein Kästchen mit Erdbeeren an. »Sind heute Morgen frisch geliefert worden.« Gabriel und ich nehmen jeder eine Handvoll, während wir am Fenster stehen. Wie bei den Blaubeeren ist ihre Farbe kräftiger, als ich es gewohnt bin. Die Süße ihres Safts überflutet meinen Mund und die Kerne setzen sich in meinen Backenzähnen fest.
»Ist es schon wieder so weit?«, fragt Gabriel. »Kommt mir ein bisschen früh vor.«
»Dieses Jahr könnten wir einen ordentlichen Sturm kriegen«, sagt einer der Köche, der vor dem Ofen kniet und mit gerunzelter Stirn zusieht, was da backt. »Vielleicht sogar einen der Stufe drei.«
»Was bedeutet das?«, frage ich und stecke die nächste Erdbeere in den Mund.
»Das bedeutet, dass ihr drei Prinzessinnen im Verlies eingesperrt werdet«, zischt die Köchin, und fast glaube ich ihr, als sie mir mit der Hand freundschaftlich auf die Schulter schlägt und lacht. »Der Hauswalter trifft jede Vorsichtsmaßnahme für seine Ehefrauen«, sagt sie. »Wenn es richtig windig wird, müsst ihr alle im Schutzraum warten, bis es vorbei ist. Keine Sorge, Blondie, ich wette, da habt ihr es so richtig schnuckelig und gemütlich, während wir anderen hier oben bleiben, kochen und euch eure Mahlzeiten bringen.«
»Ihr arbeitet während des Sturms?«, frage ich.
»Natürlich, es sei denn, es herrscht Stromausfall.«
»Keine Sorge«, sagt Gabriel. »Das Haus weht nicht weg.« Sein kleines Lachen deutet an, dass er weiß, wie
sehr ich mir genau das wünsche. Wir wechseln einen Blick und sein zögerliches Grinsen erblüht zum ersten echten Lächeln, das ich von ihm sehe. Ich erlaube mir, zurückzulächeln.
Aber ein paar Minuten später, als wir mit dem Fahrstuhl zurück auf die Etage der Frauen fahren, hängen drohende Schatten über uns, so finster wie die Gewitterwolken draußen. Ein Servierwagen mit Essenstabletts steht zwischen uns. Hummercremesuppe für die anderen und ein kleines glasiertes Hühnchen für mich, da ich ja angeblich allergisch gegen Meeresfrüchte bin. Wir reden nicht. Ich versuche, nicht an Rose zu denken, aber ich sehe nichts anderes als ihre leblose Hand unter den Laken hervorbaumeln, während sie vorbeigeschoben wird. Eine Hand, die erst neulich mein Haar zu einem Zopf geflochten hat. Ich denke an die Traurigkeit in Lindens Augen. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass seine Sandkastenliebe, das kleine Mädchen, das im Orangenhain die Pferde mit Zucker gefüttert hat, hier in diesem Haus seziert wird?
Allein in meinem Zimmer, rühre ich mein Essen nicht an. Ich nehme ein langes, heißes Bad, wasche Gabriels Taschentuch im Schaum und halte es dann vor mir hoch. Ich versuche, mir einen anderen Ort und eine andere Zeit vorzustellen, in der Blumen ausgesehen haben könnten wie diese Stickerei. So eine mächtige Blüte, kräftig, gefährlich und schön. Sie liegt auf einer Art Seerosenblatt. Ich präge mir das Bild ein und stelle dann Nachforschungen in der Bibliothek an. Am ähnlichsten scheint ihr die Lotusblume zu sein, die in östlichen Ländern vorgekommen ist und möglicherweise ursprünglich aus einem
Land namens China kam. Ich kann da nur nach einem Abschnitt in einem Almanach über Wasserbotanik gehen, und aus dem erfährt man eher etwas über Seerosen, die vielleicht eng mit dem Lotus verwandt sind, aber durchaus nicht dasselbe. Nicht so selten. Nach stundenlanger Recherche hab ich immer noch keine wirkliche Übereinstimmung gefunden.
Ich frage Gabriel, und er sagt, die Diener nehmen die Taschentücher aus einer Plastiktonne, in der die Stoffservietten aufbewahrt werden. Er weiß nicht, wer sie bestellt hat oder wo sie herkamen, aber ich darf das Taschentuch behalten, weil es noch Dutzende davon gibt.
In den nächsten Tagen bringt Gabriel mein Frühstück, wenn die anderen Frauen noch schlafen. Er versteckt Junibeeren in zusammengerollten Servietten oder unter dem Teller oder – einmal – zwischen den Pfannkuchen. Er arrangiert Erdbeerscheiben zu Eiffeltürmen und zu Booten mit speerförmigen Masten. Er stellt das Tablett auf
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