Totentöchter - Die dritte Generation
Der Raum ist kälter geworden, und dieser Albtraum wird so viel größer, als ich es je für möglich gehalten habe. In diesem Haus der süßen Düfte und strahlenden Gärten wird alles nur immer schlimmer. Ich denke an die Schüsse, die mich verfolgen, seit ich hier angekommen bin. Wie viele davon trafen Jennas Schwestern und welche waren es? Der erste Schuss? Der fünfte? Der sechste?
Ich bin zu erschüttert, um zu sprechen.
»Als du den Orangenhain zur Sprache brachtest, wusste ich nicht, was es bedeutet, aber ich konnte sehen, dass es ihn verletzt hat«, schluchzt sie und wischt sich mit der Faust die Nase. »Und ich wollte, dass er leidet, deshalb habe ich dir zugestimmt. Er hat keine Ahnung, hab ich recht? Was er genommen hat?«
»Stimmt«, pflichte ich ihr leise bei. Ich biete ihr Gabriels Taschentuch an, das ich in meinem Kissenbezug aufbewahrt habe, aber sie schüttelt den Kopf. Offenbar hasst sie diesen Ort so sehr, dass sie sich mit seinen Tüchern nicht mal die Nase putzen mag.
»Ich habe nur noch zwei Jahre«, sagt sie. »Da draußen
gibt es jetzt nichts mehr für mich und ich mag hier ja gefangen sein, doch ich werde ihn nicht mit mir machen lassen, was er will. Es ist mir egal, ob er mich ermordet, aber er kriegt mich nicht.«
Ich stelle mir vor, wie ihr kalter, steifer Körper in ein Labor im Keller geschoben wird. Ich stelle mir vor, wie Hausprinzipal Vaughn seine Schwiegertöchter eine nach der anderen seziert.
Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, denn ich verstehe ihre Wut. Ich bin eine gute Lügnerin, aber Lügen werden mir hier nicht helfen. Jenna ist ein Mädchen, das sich keine Illusionen darüber macht, was mit ihr passieren wird. Sie weiß, dass nichts wieder gut wird. Bin ich vielleicht diejenige, die das nicht wahrhaben will?
»Was wäre, wenn du fliehen könntest?«, sage ich. »Würdest du es tun?«
Sie zuckt die Achseln und schnaubt zweifelnd durch ihren Tränenschleier. »Wozu denn? Nein, da kann ich ebenso gut in Würde abtreten.« Sie wedelt mit dem Handgelenk und schüttelt die Rüschen an ihrem Ärmelumschlag auf. Dann wischt sie sich die Nase daran ab. Sie wirkt so vernichtet. Ein Skelett, ein Gespenst, ein sehr hübsches Mädchen, das bereits tot ist. Sie wendet sich mir zu und in ihren Augen finde ich noch Spuren von Leben. »Hast du wirklich die Nacht mit ihm verbracht?«, fragt sie, aber ihr Ton ist dabei nicht so zudringlich wie Cecilys. Sie ist nicht grob dabei, sie will es einfach nur wissen.
»Er hat hier die Nacht verbracht, nachdem Rose starb«, sage ich. »Er ist einfach nur eingeschlafen, das ist alles. Mehr als das ist nicht gewesen.«
Sie nickt und schluckt an dem dicken Kloß in ihrem Hals. Ich berühre ihre Schulter, sie zuckt zusammen, rückt aber nicht von mir ab.
»Es tut mir wirklich leid«, sage ich. »Er ist ein schrecklicher Mann und das hier ist ein schrecklicher Ort. Die Einzige, der es hier gefällt, ist Cecily.«
»Die begreift es schon noch«, sagt Jenna. »Sie liest all diese Schwangerschaftsbücher und das Kamasutra-Zeug, aber sie hat keine Ahnung, was er mit ihr machen wird.«
Das stimmt. Jenna, die ruhig wie ein Schatten ist, hat die ganze Zeit genau auf ihre Schwesterfrauen geachtet. Sie hat viel über uns nachgedacht.
Eine Weile sitzt sie da, schluckt ihre letzten Schluchzer herunter und reißt sich zusammen. Ich biete ihr das Glas Wasser von meinem Nachttisch an und sie nimmt ein paar Schlucke. »Danke«, sagt sie, »dafür, dass du dich beim Abendessen behauptet hast. Dass du ihm gezeigt hast, wie es sich anfühlt.«
»Danke für deine Unterstützung«, sage ich.
Ich glaube, das ist ein Lächeln auf ihren Lippen, als sie mich ein letztes Mal ansieht, bevor sie auf den Korridor verschwindet.
Ich schlafe ein und habe schreckliche Träume von traurigen Mädchen mit wunderschönen Augen, von grauen Lastwagen, aus denen Schmetterlinge quellen, von Fenstern, die sich nicht öffnen lassen. Und überall Mädchen, die von Bäumen fallen wie Orangenblüten und mit ekelerregendem dumpfem Krachen auf die Erde schlagen. Sie platzen auf.
Irgendwann in der Nacht dringt mein Geist in eine tiefere Dimension des Träumens vor. Dort ist alles weiß, es
riecht nach verrotteter Erde und Operationshandschuhen. Dann reißt mir Hausprinzipal Vaughn in einem Bioschutzanzug das Laken vom Gesicht. Ich will schreien, aber ich kann nicht, weil ich tot bin, mit weit aufgerissen, erstarrten Augen. Er setzt sein Messer zwischen meinen Brüsten an, ist
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