Totentöchter - Die dritte Generation
betrunkenen Zustand kann ich beinah verstehen, was Gabriel meinte, als er gefragt hat: Was hat die freie Welt zu bieten, was du hier nicht hast?
Beinah.
Ich gebe Linden einen kleinen Kuss. Meine Lippen bleiben fest geschlossen, bis ich mich von ihm zurückziehe.
»Ich habe nachgedacht, mein Herz«, sage ich. »Ich bin bisher keine besonders gute Ehefrau gewesen, nicht wahr? Ich versuche, mich zu bessern.«
»Dann bist du an jenem Abend mit dem Hurrikan nicht von mir weggelaufen?«
»Sei nicht albern. Natürlich nicht«, sage ich.
Er seufzt glücklich und schlingt den Arm um meine Hüfte. So schläft er ein.
Freiheit, Gabriel. Das ist es, was du hier nicht hast.
Am nächsten Morgen sehe ich Gabriel nicht. Mein Frühstück wartet bereits auf mich, als ich aufwache, aber ohne Junibeeren und ohne einen Hinweis darauf, dass er da gewesen ist. Ich rufe die Diener und bitte um Erlaubnis, den Fahrstuhl benutzen zu dürfen. Als die Türen aufgehen, steht nicht Gabriel in der Kabine, um mich zu begleiten.
Aber Vaughn.
»Guten Morgen, Liebling«, sagt er lächelnd. »Du siehst ein bisschen zerknittert aus, aber entzückend wie immer. Ist es spät geworden, gestern Abend?«
Ich setze mein bezauberndes Lächeln auf. Rose hat recht, die Wangen schmerzen davon. So viel zu Linden, der seinen Vater dazu überreden wollte, uns mehr Freiheiten zu gewähren. Hier hat Vaughn das letzte Wort, auch wenn er seinen Sohn so tun lässt, als wäre es nicht so.
»Es war unglaublich«, sage ich. »Ich verstehe gar nicht, wie Linden diese Ausstellungen trocken und langweilig nennen kann.«
Ich steige zu ihm in den Fahrstuhl und die Türen schließen sich. Ich bemühe mich, nicht zu würgen. Er riecht nach Keller, und ich frage mich, wen er heute Morgen wohl seziert haben mag.
»Also, wo möchtest du heute gern hin?«, fragt er.
Ich trage meinen Mantel. Zwar ist der Schnee nicht liegen geblieben, doch ich weiß noch, wie kalt es letzte Nacht war. »Es scheint einfach ein schöner Tag für einen Spaziergang zu sein«, sage ich.
»Hast du die Reparaturarbeiten am Minigolfplatz gesehen?«, fragt Vaughn. Er drückt den Knopf, der uns nach unten befördert. »Das solltest du dir wirklich anschauen. Der Bautrupp hat fantastische Arbeit geleistet.«
Wörter wie »fantastisch« klingen aus seinem Mund irgendwie unheilvoll. Aber ich lächele. Ich bin bezaubernd. Ich bin furchtlos. Ich bin Linden Ashbys Erste Ehefrau. Die, zu der er nachts kommt, die, die bei Partys an seinem Arm zu sehen ist. Und ich bete meinen Schwiegervater an.
»Habe ich noch nicht gesehen«, sage ich. »Ich komme gerade erst wieder auf die Beine, nach meinem Unfall. Ich fürchte, ich bin nicht ganz auf dem letzten Stand.«
»Nun, denn …« Vaughn hakt sich bei mir unter, auf eine Weise, die wesentlich mehr in meine Privatsphäre eindringt, als es bei Linden der Fall ist. »Wie wäre es mit einem Spiel?«
»Besonders gut bin ich nicht », sage ich. Ich bin zurückhaltend und ziere mich.
»Ein schlaues Mädchen wie du? Ich glaube dir kein Wort.«
Und dieses eine Mal denke ich, dass er die Wahrheit sagt.
Wir spielen den gesamten Parcours und Vaughn hält die Punktezahl fest. Er lobt meinen Schlag, wenn ich das Loch beim ersten Mal treffe, und hilft mir geduldig,
wenn ich einen Ball verschlage. Ich hasse es, seine papiernen Hände auf meinen zu spüren, während er meinen Golfschläger führt. Ich hasse seinen heißen Atem an meinem Hals.
Und ich hasse es, dass er neben mir steht, als wir zum letzten Loch auf dem Platz kommen – dem Leuchtturm, der immer noch seine Strahlen in die Freiheit wirft. Während Vaughn sich gar nicht genug über den wunderbaren neuen Kunstrasen auslassen kann, halte ich Ausschau nach dem Weg zum Tor. Ich bin sicher, dass die Limousine nicht weit von hier entlanggefahren ist, auf einem Weg, der durch die Bäume führt.
Gleich nach meinem Schlag sagt Vaughn: »Und nun erzähl mir, wie dir die Stadt gestern Abend gefallen hat.«
»Die ganzen Entwürfe haben mich wirklich beeindruckt. So viel echtes Talent …«
»Ich habe nicht nach den Entwürfen gefragt, Liebling.« Er ist mir viel zu nahe. »Die Stadt, was für einen ersten Eindruck hattest du von der Stadt?«
»Ich habe nicht sehr viel davon gesehen«, sage ich ein wenig steif. Worauf will er hinaus?
»Das wirst du noch.« Er schenkt mir sein Greisenlächeln und tippt mir mit dem Finger auf die Nase. »Linden spricht die ganze Zeit nur von all den bevorstehenden Partys. Du hast
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