Totentöchter - Die dritte Generation
starrt. »Sie haben gesagt, dass du die Nette bist«, erklärt er.
In der Küche herrscht das übliche geschäftige Treiben, was bedeutet, dass Vaughn nicht in der Nähe ist.
»Entschuldigt«, sagt der Diener, »Lady Rhine ist hier mit einer Beschwerde.«
Alle drehen sich zur Tür um und starren mich an. Die Köchin schnaubt, lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen.
»Die da beschwert sich nicht«, sagt sie.
Ich danke dem Diener dafür, dass er mich nach unten gebracht hat, jemand räumt die Tabletts weg und mit Bedauern verfolge ich, wie das tadellose Essen weggeworfen wird. Aber ich bin aus einem wichtigeren Grund hier heruntergekommen. Ich bahne mir meinen Weg durch Dampf und Geplauder, lehne mich dann an den Tisch neben der Köchin, die sich über ihren riesigen blubbernden Topf beugt. Ich weiß, dass bei all dem Tumult nur sie meine Frage hören kann. »Was ist mit Gabriel passiert?«
»Du solltest nicht hier runterkommen und nach ihm fragen. Du bringst den Jungen nur in noch größere Schwierigkeiten«, sagt sie. »Der Hausprinzipal hat ein Auge auf ihn, seit deinem gescheiterten Fluchtversuch.«
Eine fürchterliche Kälte kriecht mir den Rücken hinauf. »Geht es ihm gut?«
»Hab ihn nicht gesehen«, sagt sie. Und sie schaut mich so traurig an. »Nicht seit heute Morgen, als der Hausprinzipal ihn in den Keller hinuntergerufen hat.«
Den Rest des Nachmittags ist mir übel. Jenna hält mir das Haar zurück, während ich in die Toilettenschüssel würge, aber es kommt nichts.
»Vielleicht hast du zu viel getrunken«, sagt sie sanft.
Aber das ist es nicht. Ich weiß, dass es das nicht ist. Ich rücke von der Toilette ab und setze mich auf den Boden. Hoffnungslos fallen mir die Hände in den Schoß. Tränen steigen in mir hoch, doch ich lasse sie nicht raus. Diese Genugtuung will ich Vaughn nicht geben.
»Ich muss mit dir reden«, sage ich.
Ich erzähle ihr alles. Von Roses Leiche im Keller, von dem Kuss mit Gabriel, davon, dass Linden keine Ahnung hat, wo ich herkomme, und Vaughn die absolute Kontrolle über unser Leben – und ich erzähle ihr sogar von Roses und Lindens totem Kind.
Jenna kniet neben mir und betupft mir Stirn und Nacken mit einem feuchten Tuch. Das fühlt sich gut an, trotz allem, und ich lehne meinen Kopf an ihre Schulter und schließe die Augen. »Dieser Ort ist nichts weiter als ein Albtraum«, sage ich. »Immer wenn ich denke, dass es vielleicht doch nicht so übel ist, wird es schlimmer. Es wird schlimmer und ich kann nicht aufwachen. Hausprinzipal Vaughn ist ein Monster.«
»Ich glaube nicht, dass Hausprinzipal Vaughn sein Enkelkind töten würde«, sagt Jenna. »Wenn es stimmt, was du sagst, und er Roses Leiche dazu benutzt, ein Gegenmittel zu finden, würde er dann nicht wollen, dass sein Enkel lebt?«
Ich halte mein Versprechen und erzähle ihr nicht, was ich von Deidre erfahren habe. Dass die Totgeburt überhaupt keine Totgeburt gewesen ist. Aber der Gedanke verfolgt mich. Ich will denken, dass Jenna recht hat. Welchen Grund könnte Vaughn haben, sein eigenes Enkelkind umzubringen? Es ist wahr, er hat immer nur Söhne gehabt – vielleicht sind ihm die lieber –, aber eine Enkelin wäre ihm doch zumindest zum Kinderaustragen nützlich. Die Töchter reicher Familien dürfen manchmal sogar wählen, wen sie heiraten wollen, und sie stehen über ihren Schwesterfrauen. Außerdem findet Vaughn immer eine Verwendung für Dinge, Menschen, Leichen – nichts wird verschwendet.
Dennoch weiß ich irgendwie, dass Deidre und Rose sich nicht getäuscht haben, als sie das Baby weinen hörten. Und ich glaube auch nicht, dass Linden zufällig weg war, als es passierte. Bei diesem Gedanken steigt eine neue Welle Übelkeit in mir auf. Jennas Stimme scheint von ganz weit weg zu kommen, als sie mich fragt, ob mit mir alles in Ordnung ist. Sie sagt, ich sei schrecklich blass.
»Wenn Cecily oder dem Baby irgendwas Schlimmes zustößt, raste ich aus«, sage ich.
Jenna streicht mir beruhigend über den Arm. »Nichts wird geschehen«, sagt sie.
Danach ist es eine Weile still, und ich denke an all die
schrecklichen Dinge, die Gabriel im Keller widerfahren könnten. Ich stelle ihn mir blau geschlagen, durchgeprügelt, betäubt vor. Den Gedanken, dass er schon tot sein könnte, kann ich nicht zulassen. Ich denke an das Geräusch auf dem Flur, während wir uns geküsst haben, und wie leichtsinnig es von uns war, die Tür offen zu lassen. Und ich denke an den Atlas, den er aus der
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