Totentöchter - Die dritte Generation
unglaubliche Augen her?«
Ich sage: »Von meinen Eltern.«
Und Linden guckt verschreckt, als wäre ihm nie der Gedanke gekommen, dass ich Eltern haben könnte – und erst recht nicht, dass ich sie gekannt haben könnte.
»Nun, Sie sind einfach hinreißend«, beharrt der Mann. Er ist zu betrunken, um die Besorgnis in Lindens Miene zu bemerken. »Auf die sollten sie achtgeben. Ich weiß ja nicht, wo sie herkommt, aber ich wette, es gibt dort nicht noch so eine wie sie.«
Linden antwortet darauf mit einem kleinlauten, erschütterten: »Nein, gibt es nicht …«
Und was noch bemerkenswerter ist, ich glaube, seine Überraschung ist echt.
»Komm, mein Herz«, sage ich, nach einer liebevollen
Anrede suchend, die nicht von Vaughn oder Cecily besetzt ist. Ich ziehe an seinem Arm. »Ich möchte mir das Haus da drüben ansehen.« Ich lächele den Mann an, der in seiner Trunkenheit vor sich hin kichert. »Entschuldigen Sie uns bitte.«
Wir bleiben eine Weile. Wir schmeicheln den Architekten. Für kurze Zeit verlasse ich Lindens Seite, denn er beginnt ein geschäftliches Gespräch mit einem der Architekten. Ein paar Minuten später stößt er wieder zu mir, als ich gerade eine Erdbeere esse und versuche, mich von der Aufregung zu erholen.
»Können wir gehen?«, fragt er.
Ich nehme seinen Arm, und es gelingt uns, unbemerkt zu verschwinden.
Draußen ist der Schnee geschmolzen. Mir wird klar, dass der sonnige Nachmittag im Gebäude nur eine Illusion gewesen ist. Die kalte Luft trifft mich mit voller Wucht. Wir machen uns auf den Weg zur Limousine und ich denke: Ich könnte wegrennen. Die Wachleute sind drinnen, nicht hier draußen. Ich müsste nur Linden überwältigen und der ist so schwach, ich müsste ihn nur schubsen und schon wäre er aus dem Weg. Ich könnte es tun. Ich könnte gehen. Ich würde die Welt hinter dem eisernen Tor nie wieder sehen müssen.
Aber als Linden mir die Tür aufhält, steige ich in die Limousine, wo es hell und warm ist. Sie lädt mich ein, mich wieder nach Hause zu bringen. Nach Hause, denke ich – ein seltsames Gefühl, aber so seltsam nun auch wieder nicht. Müde lasse ich mich in die Polster fallen und versuche meine quälenden schwarzen High Heels loszuwerden. Das erscheint mir plötzlich ziemlich schwierig.
Der Wagen setzt sich in Bewegung, ich taumele nach vorn. Linden fängt mich auf und aus irgendeinem Grund lache ich.
Er zieht mir die Schuhe aus und ich seufze vor Dankbarkeit.
»Wie hab ich mich gemacht?«, frage ich.
»Du warst wunderbar«, sagt er. Seine Nase und die Wangen sind etwas gerötet. Er fährt mit dem Fingerrücken an meiner Wange entlang.
Ich lächele. Es ist das erste nicht erzwungene Lächeln, seit die Messe begonnen hat.
Es ist spät, als wir zum Anwesen zurückkommen. Die Küche und alle Flure sind leer. Linden sieht nach Cecily, deren Licht noch brennt. Sie hat sicher auf ihn gewartet. Ob sie wohl bemerkt, dass er ein bisschen betrunken ist? Wahrscheinlich bin ich daran schuld, denn er ist nur meinem Beispiel gefolgt. Ich wüsste gern, ob Rose ihm eher die Gläser aus der Hand genommen und ihn gewarnt hat, wenn er zu viel getrunken hatte. Wie konnte sie diese Veranstaltungen nur völlig nüchtern ertragen?
Ich ziehe mich in mein Schlafzimmer zurück und pelle mir das verschwitzte rote Kleid vom Körper. Ich ziehe mein Nachthemd an, bürste mein Haar – immer noch dauerhaft gelockt – und binde es zu einem ungelenken Pferdeschwanz. Ich öffne das Fenster und atme die kalte Luft in hastigen Zügen ein. Das Fenster steht noch offen, als ich ins Bett klettere und in den Schlaf hinübergleite. Hinter meinen Augenlidern wimmelt es von sich drehenden Häusern und schwangeren Bäuchen; Tabletts mit Weingläsern schweben auf mich zu.
Irgendwann in der Nacht wird die Luft wärmer. Ich
höre, wie das Fenster geschlossen wird, und vernehme flüsterleise Schritte auf dem dicken Teppich.
Dann sagt Lindens Stimme: »Schläfst du, mein Herz?«
Er erinnert sich, wie ich ihn auf der Messe genannt habe. Mein Herz. Es klingt nett. Weich. Ich lasse es zu.
»Hm«, antworte ich. In der Dunkelheit treiben glitzernde Fische und wuchernder Efeu. Und das Zimmer dreht sich auch ein wenig.
Ich denke, er fragt, ob er zu mir ins Bett kommen kann. Ich denke, ich erlaube es ihm murmelnd. Ich spüre sein leichtes Gewicht neben mir. Ich bin ein kleiner Planet auf seiner Umlaufbahn und er ist die warme Sonne. Ich rieche den Wein und die Party an ihm. Er rückt nahe an mich heran
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