Totenwache
Maria Wern, Mitte dreißig, starrte kritisch auf ihre Nägel. Es war schwer, sie wieder sauber zu bekommen, wenn man am Abend vorher wie ein Maulwurf in der Erde gewühlt hatte. Sie trank einen ordentlichen Schluck Kaffee und überflog eine Anweisung der Polizeiverwaltung, in der es um problemorientiertes und strukturiertes Arbeiten ging. Um sechs Uhr hatte der Wecker geklingelt, nach knapp vier Stunden Schlaf. Um sieben hatte sie das Haus verlassen, um die Kinder in den Kindergarten zu bringen. Linda war im Auto schlecht geworden, und sie hatte sich auf den Rücksitz des Wagens erbrochen.
Maria zwirbelte ihren blonden Zopf mit der Hand und wickelte ihn zu einem Dutt zusammen. Die Augen brannten, als sie versuchte, sich auf den Text des Blattes vor ihr zu konzentrieren, die Buchstaben an ihren Plätzen zu lassen und daraus einen sinnvollen Zusammenhang zu lesen.
»Du hast Besuch«, knisterte es aus dem Haustelefon. »Rosmarie Haag. Sie hat offenbar bereits mit Örjan Himberg telefoniert, möchte aber mit jemand anderem reden.« Darüber wunderte sich Maria überhaupt nicht. Das wollten alle, die mit Örjan Himberg gesprochen hatten. Bei der Kriminalpolizei war er ebenso beliebt wie eine Steuernachzahlung. Aber seit Jesper Ek nach einem Messerstich in den Bauch für längere Zeit krankgeschrieben worden war, hatte man sich gezwungen gesehen, jemanden von der Schutzpolizei auszuleihen. Und wen kommandierten sie ab? Natürlich Örjan! Örjan selbst war nicht gerade erfreut darüber, dass er seiner Lieblingsbeschäftigung nicht mehr nachgehen durfte: Autofahrer anzuhalten und deren Wagen zu kontrollieren. Schulmeisterlich und herrisch beschuldigte er seine Mitmenschen wegen schmutziger Nummernschilder, vermeintlichen Fahrens unter Alkoholeinfluss, eventuell zu schnellen Fahrens, nicht sauberer Scheinwerfer und nicht genehmigter Sonderausstattung. Jungen um die achtzehn ließ er niemals ohne genaue Untersuchung weiterfahren. Über die machte er sich mit einem Eifer her, der das gesamte übrige Rechtswesen in den Schatten stellte. Kristers Neffe war ihm in die Hände gefallen und imitierte gern, wie Örjan seinen Führerschein misstrauisch und ausführlich studiert hatte, wie bei einer Passkontrolle während des Krieges. Die jungen Leute hatten Örjan Himberg den Spitznamen Himmler verpasst.
Maria wurde in ihren Überlegungen durch ein vorsichtiges Klopfen an der Tür unterbrochen, und Arvidsson erschien mit ihrem Besuch. Die Frau, die in das Zimmer trat, stellte sich als Rosmarie Haag vor. Sie hielt sich kerzengerade. Das volle wellige rote Haar war mit einer Lederspange zum einem Knoten gebunden. Sie hatte große graue Augen, rund wie die einer jungen Katze. Das elegant geschnittene Kleid aus naturfarbenem Leinen hob auf diskrete Art und Weise ihre gutgeformte Figur hervor. Aber es sah warm aus, hatte lange Ärmel und war bis zum Hals zugeknöpft. Das sorgfältig geschminkte Gesicht wies die Tönung der ganzen braunroten Skala auf. Sicher wäre Örjan Himberg entgegenkommender gewesen, wenn er dieser Erscheinung Auge in Auge gegenübergestanden hätte, überlegte Maria zynisch.
»Mein Mann ist seit gestern Nacht verschwunden. Polizeiinspektor Himberg wollte mir einreden, dass Clarence unterwegs gewesen und gefeiert hätte und danach im falschen Bett gelandet ist. Das kann ich mir nicht vorstellen. Als ich zum dritten Mal anrief, wurde Polizeiinspektor Himberg unfreundlich. Ich habe ihn zu Hause angerufen, denn seine Schicht war heute Nacht um ein Uhr zu Ende. Ich weiß natürlich auch, dass das ungewöhnlich ist, aber ich wollte Klarheit haben, was geschehen ist. Himberg sagte, er würde mich in die spezielle Datei eintragen.« Maria kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Hoffentlich blieb es ihr erspart, der Frau zu erklären, dass diejenigen, die in die spezielle Datei eingetragen wurden, Menschen waren, die nicht unbedingt die Hilfe der Polizei brauchten, sondern eher eine andere Form von Beistand: ängstliche Trottel, die meinten, die Heizkörper in ihren Wohnungen strahlten giftige Gase ab, den einen oder anderen, der sich von außerirdischen Wesen belästigt fühlte, oder solche Mitbürger, die regelmäßig die Polizei anriefen und anzeigen wollten, dass die neunzigjährige im Rollstuhl sitzende Dame, die im Haus gegenüber wohnte, ein Bordell betrieb. Der Blitz sollte Örjan Himberg zur Strafe für seine Instinktlosigkeit treffen.
»Bitte setzen Sie sich. Wir wollen das einmal gründlich durchsprechen.
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