Totenwall
auch Lust?»
Sören dachte bereits, sie hätten nun Gelegenheit, etwas Zweisamkeit an diesem uneinsehbaren, wenn auch nicht abgeschiedenen Ort genießen zu können, aber Tilda sagte sofort ja. Also folgten sie Liane über einen Trampelpfad zu einer Anhöhe, wo sich eine nicht geringe Schar von Nackten versammelt hatte, die sich den unterschiedlichsten gymnastischen und turnerischen Aktivitäten hingab. Bänder wurden geschwungen, Bälle gerollt und geworfen. Wenn die Nacktheit rund um den See noch etwas Natürliches gehabt hatte, hier wurde sie zelebriert.
Es gab zwei Gruppen. Die einen hatten sich auf Strohmatten oder im Gras niedergelassen, rollten sich große Gymnastikbälle zu oder versuchten sich an den akrobatischen Verrenkungen des Bodenturnens, baumelten kopfüber an einer Reckstange oder machten daran Klimmzüge; andere bildeten einen Reigen, indem sie sich die Hände auf die Schultern legten und sich im Kreis oder in Form einer Schlange bewegten. Dann gab es noch die Bockspringer und schließlich die Akrobaten, die versuchten, menschliche Pyramiden zu bauen, mit starken Männern als Basis und den leichtesten Frauen ganz oben an der Spitze.
Die zweite Gruppe, die sich etwas abseits von den Turnern zusammengefunden hatte, war mit theatralischen Aufführungen beschäftigt. Während Rezitatoren und Sänger Gedichte und Lieder vortrugen, deren Inhalte die germanischen Tugenden der Vorfahren zur Sprache brachten, versuchten sich andere in der bildlichen Umsetzung kriegerischer Zeremonien und im Nachstellen klassischer Posen aus der Antike. Auf einer hölzernen Schautafel waren Runen abgebildet, und einige der Anwesenden versuchten nun, mit ihren Leibern die Zeichen nachzubilden. Ein bizarres Schauspiel, bei dem es nicht ausbleiben konnte, dass sich einzelne Körperteile der Männer und Frauen manchmal irritierend eng berührten und umschlangen.
Sören starrte wie gebannt auf die Akteure, denn er ging davon aus, dass sich viele von ihnen keineswegs nahestanden. Das Drehen, Sichwinden, Dehnen, Spreizen und Umklammern nahm teilweise so intime Ausmaße an, wie es vielleicht im Ringkampf vorkommen mochte, nicht aber zwischen einander fremden Männern und Frauen. Einige wie in Trance, andere in erregtem Eifer wagten sich an immer abstrusere Gebilde, die zu formen man sich zum Ziel gesetzt hatte. In Sörens Augen war die Grenze der Schamlosigkeit bereits eindeutig überschritten.
Er verfolgte das Schauspiel eine Zeitlang, dann ging er, fasziniert und irritiert zugleich, zu Mathilda und Liane zurück. Die beiden hatten ihre gymnastischen Streckübungen inzwischen beendet und sich einem Wettkampf im Tauziehen angeschlossen. Zwei Mannschaften von je fünf Frauen und Männern zogen, von lauten Anfeuerungsrufen getrieben, wie besessen an einem dicken Seil, stemmten mit aller Kraft in atemberaubender Schräglage die Füße in den Sand. Mittendrin Tilda, die aufgrund ihrer Körpergröße und Kraft eigentlich kaum Entscheidendes beitragen konnte. Angestachelt von gegenseitigem Kampfgeschrei, sah Sören den zarten Körper seiner Frau in angestrengter Pose vor und zurück gleiten, umgeben von muskulösen Jünglingen und schwergewichtigen Kerlen und ebensolchen Frauen, ein minutenlanges Hin und Her, bis es der gegnerischen Mannschaft, zu der auch Liane gehörte, endlich gelang, das Seil über eine imaginäre Mitte zu ziehen, und beide Seiten wie Knäuel nackter Körper übereinanderpurzelten.
Dem Strahlen auf Tildas Gesicht entnahm Sören, dass sie auf ihre Kosten gekommen war, und er verkniff sich jeden Kommentar. Lachend kam sie auf ihn zu, und dann geschah, was Sören die ganze Zeit über befürchtet hatte. Anscheinend gab es hier tatsächlich jemanden, den sie kannten. Zumindest winkte Mathilda einem jungen Mann zu, der sich kurz darauf zu ihnen gesellte. Keiner von ihnen wusste so recht, wie man sich nackt einander vorstellen sollte, und schließlich brachen sie alle in Gelächter aus. Mit einem förmlichen Handschlag stellte sich der Mann schließlich als Ludwig Lippstedt vor. Ein junger Maler, den Tilda und Liane neulich in der Villa in Lokstedt kennengelernt hatten. Zu ihm gehörten zwei junge Frauen, die sich nach kurzer Zeit auch zu ihnen gesellten. Gerda Strack und Heidi Sello, zwei seiner Modelle, wie Lippstedt erklärte. Sie mochten Anfang zwanzig sein, höchstens, und gackerten unentwegt wie alberne Mädchen.
Lippstedts Interesse aber galt fast ausschließlich Liane Kronau, die er eindringlich beäugte,
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