Totenwall
während er die allgemeine Nacktheit gleich zum Thema ihrer Konversation machte. Abgesehen davon, dass sie die Schönheit der Menschen in ihrer ursprünglichen und reinsten Form darstellte, wie er sagte, sei Nacktheit auch etwas, das es den Individuen ermögliche, die Standesunterschiede der modernen Gesellschaft zu überwinden. Reine Nacktheit würde keine Rückschlüsse auf Stand und Herkunft zulassen und damit dem Hauptübel für ein friedliches Miteinander in der Gemeinschaft entgegenwirken, dem Neid.
Doch Liane war nicht auf den Mund gefallen. Sie hielt ihm keck entgegen, dass sie hier so manche Frau um ihren schön geformten Körper beneide, und auch das Argument der unsichtbaren Stände entkräftete sie mit einem Hinweis darauf, dass ein Blick auf bestimmte Körperpartien und Zähne ausreichen würde, um Zugehörigkeit und Herkunft zu entschlüsseln. Sören war beeindruckt und fühlte sich zugleich bestätigt in seiner Vermutung, dass auch an diesem Ort mehr beobachtet wurde als zugegeben wurde. Im gleichen Moment spürte er, wie seine Zunge in die Lücke seiner fehlenden Zähne glitt, und er fühlte sich ertappt.
«Aber wer achtet angesichts der teils so hübschen Körper schon auf die Zähne», erwiderte Lippstedt fast schmeichlerisch, und sein Blick fiel erst auf seine jungen Begleiterinnen, streifte kurz Tilda und haftete dann, wie zuvor, an Liane. Seine Augen verrieten, dass er sie ebenfalls gerne als Modell gewinnen wollte.
Sören betrachtete die beiden jungen Frauen eingehend. Die Rundungen ihrer makellosen Körper ließen vermuten, dass sie Töchter aus gutem Hause waren, nur unwesentlich älter als Ilka. Die gepflegten Fingernägel und die fehlenden Schwielen an den Handflächen verrieten das Gleiche. Vielleicht begehrten sie als Modelle für einen Maler, der sie sehr wahrscheinlich unbekleidet porträtierte, gegen die bürgerliche Enge ihrer Elternhäuser auf. Gab es eine höhere Stufe der Provokation? Oder war alles doch ihrer jugendlichen Naivität geschuldet? Die beiden kokettierten ganz offen mit ihren Körpern. Heidi hatte sich demonstrativ die Schambehaarung entfernt, die rothaarige Gerda warf unentwegt ihren Kopf in den Nacken. Auf ihren Schultern deutete sich an, dass sie schon zu viel Sonne abbekommen hatte. Heidi erklärte, sie wolle nun unbedingt zum Anger, wo man sich zur Bemalung der Körper treffe, und Lippstedt gab ihrem Drängen nach.
Sie verabredeten sich für später am Lagerfeuer, dann kehrten sie zu dritt zu ihrer Sonneninsel zurück und schwammen ein paar Runden. Sie wärmten ihre Körper auf dem Plateau, kühlten sich erneut im See ab, verloren kaum Worte über das, was sie taten, und noch weniger über das, wie sie es taten, und als die Zeit gekommen war, sich am zentralen Anger der Anlage zum Essen zusammenzufinden, kam es Sören bereits vor, als sei das Nacktsein wirklich die normalste Sache der Welt.
An der Feuerstelle herrschte ein großes Durcheinander, Lippstedt und seine Begleiterinnen waren im allgemeinen Tumult dennoch schnell ausgemacht. Heidi präsentierte stolz die Malereien, mit denen irgendjemand ihren jungen Körper zu vollendeter Schönheit verziert hatte, wie sie fand. Einzig die zwei fehlenden Zehen an ihrem rechten Fuß stellten einen kaum wahrnehmbaren Makel dar. Bunte Streifen und Kreise, florale Muster waren um ihre Brüste und Schenkel gemalt. Dazwischen wand sich eine Schlange um ihren Körper, und bezeichnenderweise endete das Haupt des Reptils genau dort, wo sonst ein Büschel Haare das Zentrum weiblicher Sexualität verdeckte; hier aber schienen die Farben gerade auf dem Hügel ihrer Scham zu explodieren.
Während die Kartoffeln auf dem Grillrost garten, wurden Sören und Mathilda erst neugierig beäugt, und nachdem sie an einem der langen Tische Platz genommen hatten und allein dadurch die Distanz zu schwinden begann, stellten sich immer mehr den Neuen vor, fragten, wie es ihnen hier gefalle, setzten sich neben sie, und die Mitteilungsbedürftigen und Redseligen begannen ungefragt zu erzählen, warum sie hier seien und was sie sonst so machten. Man war ja unter sich. Nach kurzer Zeit schien es Sören, als kenne er die Geschichten aller, die dem Verein beigetreten waren, sei es aus lebensreformerischen Gründen, aus solchen gesunder Ernährung oder aus spirituellen oder mythologischen Gründen. Die Spanne schien dabei äußerst weit zu sein, und sie erfuhren von den abenteuerlichsten Lebensläufen.
Jens Amman etwa, ein dreißigjähriger
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