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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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beruhigt die Augen zugefallen.
    Sören wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, es konnten nur ein paar Stunden gewesen sein. Horrorszenarien hatten seinen Schlaf begleitet. Selbst jetzt wurde er die Bilder kopfloser, kopulierender Frauenkörper nicht los. Er ging ins Bad und tauchte sein Gesicht mehrmals in einen Bottich mit kaltem Wasser. Er hatte recht behalten mit seinen Befürchtungen, dass die offen zur Schau getragene Nacktheit kranke Phantasien beförderte und anzog. Von vornherein hatte er diese Gefahr in Betracht gezogen. Und seine Gedanken hatten sich bewahrheitet, auch wenn sie wahrscheinlich nicht auf die Mehrheit der Anwesenden zutrafen. Es war eine trügerische Friedfertigkeit, die sich ihnen in Duvenstedt offenbart hatte. Auf einmal erschien es ihm geradezu selbstverständlich, dass diese Nudisten-Camps sowohl widerwärtige Geschäftemacher als auch sexuell Desorientierte gleichermaßen anziehen mussten. Dass es so schlimm war, hatte er sich allerdings nicht ausmalen können. Waren die bestialischen Morde also die Folge einer kranken und skrupellosen Triebhaftigkeit? Wollte man die Spuren verwischen, oder hatte man an den Opfern des lüsternen Treibens ein Exempel statuieren wollen? Hatten sie es womöglich mit einem selbsternannten Wächter von Sitte und Anstand zu tun, der einen persönlichen Feldzug gegen die Schamlosen führte? Es gab bestimmt nicht wenige in der Bevölkerung, denen das Tun und Treiben der Nackedeis ein Dorn im Auge war. Sören konnte immer noch keinen klaren Gedanken fassen. Alles war inzwischen denkbar. Und die Ereignisse hatten sich überschlagen.
    Die Gräfin nahm dabei eine zentrale Rolle ein. Ihr Verhältnis zu Kaminsky war nach wie vor unklar. Das zu Goldmann junior schien hingegen durchschaubar. Hatte sie Kaminsky nur Modell gestanden, oder steckten die beiden unter eine Decke? Und nun war auch noch der Hüne aufgetaucht, der ihren Namen trug. Auch er war einer der Akteure für Kaminskys widerwärtige Photographien. Die Frage, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander standen, brannte Sören unter den Nägeln. Genauso wie die Frage, ob Kaminsky mit seinen Bildern nur einen heimlichen Markt bedient hatte oder ob Erpressung das eigentliche Motiv darstellte. Aber warum hatte man die jungen Frauen getötet? Sören zweifelte nicht daran, dass die anderen toten Mädchen ebenfalls Modelle von Kaminsky gewesen waren. Würde man die kopflosen Frauen den Photographien zuordnen können?
    Am Frühstückstisch erwartete ihn Tilda. Auch bei ihr hatten die Geschehnisse Spuren hinterlassen. Das Thema Duvenstedt mied sie. Wahrscheinlich ahnte sie, was Sören durch den Kopf ging. Vielleicht dachte sie inzwischen auch ähnlich darüber. Die Themen, die sie anschnitt, wirkten wie ein Ablenkungsmanöver. Sie erzählte von einem Brief, den Ilka aus Schweden bekommen habe, von einem Ture Sjöberg. Ilka sei ganz aufgeregt gewesen, und nachdem sie das Haus verlassen hatte, habe sie den Brief lesen wollen. Aber er war in Esperanto verfasst, sie hatte also kein Wort verstehen können. Sören hatte das als gerechte Strafe für ihre Neugierde bezeichnet, aber dann waren ihm wieder die toten Mädchen in den Sinn gekommen, die kaum älter gewesen waren als Ilka. Sie ließen ihn einfach nicht los. Er kam sich inzwischen vor, als würde er Gespenster sehen.
    Kurz bevor er das Haus verließ, bekam er einen Anruf von Senator Mummsen, der von Andresen informiert worden war und Sören sogleich zu dem Erfolg beglückwünschte. Dafür sei es noch etwas früh, hatte Sören mit einem Verweis auf den Stand der Dinge geantwortet und versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten. Dann war er in Richtung Stadthaus aufgebrochen. Er war schon seit Tagen nicht mehr in seiner Kanzlei gewesen und hätte wegen der Post zumindest kurz vorbeischauen müssen, aber die Neugierde hatte seine Prioritäten verschoben.
    Heinrich Andresen saß mit zwei Kollegen beisammen und blickte nur kurz auf, als Sören den Raum betrat. Sie studierten das Aktenmaterial, das aus Berlin gekommen war. «Kaminsky ist gelernter Chemielaborant», berichtete Andresen. «Die Vernarbung seiner Hände ist die Folge eines Arbeitsunfalls. Ein Laugenbad hat seine Haut verätzt.»
    «Hat er inzwischen den Mund aufgemacht?», fragte Sören.
    Andresen nickte. «Ja. Auch wenn es ihm schwerfällt. Er befindet sich auf der medizinischen Station und wird versorgt. Sprechen kann er so gut wie gar nicht. Es ist nur ein Genuschel, das er von sich gibt.
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