Toter geht's nicht
schlechte Kreise, ich gerate in den schlechtesten, den Schlusskreis. Alle Eltern, die schon vor der Abholzeit um 16.30 Uhr im Schlumpfloch sind, dürfen sich händehaltend in den Schlusskreis stellen. Wenn es nur beim Stehen bliebe. In der Mitte läuft dann irgendwann der Bullebums herum. Der bin ich heute. Denn ich bin ja so selten da. Und alle finden es toll, wenn außer Wolle auch einmal ein anderer Papa den Bullebums macht. Wenn ich meinen Bullebums-Part hinter mich gebracht habe, stehe ich wieder mit allen anderen im Kreis, und ein anderer ist der Bullebums. Laurin steht mir gegenüber und guckt sehr skeptisch. Links habe ich Wolle an der Hand, rechts Molli. Ich muss hüpfen, klatschen, singen und am Ende mit meinen beiden Nachbarn bullebumsen. Dazu rufen alle: Bul – le – bums! Und bei Bums bumst man gegen den Popo des anderen. Ich finde den von Molli nicht und verschwinde bullebumsend in einem weiten großen Nichts aus ganz vielen Tüchern.
«Mein lieber Laurin – weißt du noch, als Oma krank war? Als ihr so der Rücken wehgetan hat und sie ein paar Wochen von zu Hause weg war, um wieder richtig gesund zu werden? Da haben wir sie doch mal besucht. In Bad Orb, dort, wo es dieses riesige Eis gab. Kannst du dich erinnern? Nach ein paar Wochen war sie wieder richtig gesund und konnte sogar mit dir wieder Fußball spielen. Nun bin ich krank, nicht schlimm, aber ein bisschen schon. Deine Mama braucht eine Pause, um wieder so richtig fit zu werden. Und dazu musste ich wegfahren, denn dort, wo ich jetzt bin, an diesem Ort hier, da werde ich schneller gesund als zu Hause. Ich brauche ganz viel Ruhe. Deswegen darf mich auch keiner besuchen. So werde ich am allerschnellsten gesund. Ist doof, dass wir uns nicht sehen, dafür komme ich dann schneller wieder nach Hause. Ich denke die ganze Zeit an dich und habe dich sehr lieb. Jetzt kümmert sich dein Papa ganz viel um dich. Das wird auch mal schön sein. Der spielt auch viel besser Fußball als ich. Wir sehen uns bald wieder. Ich freue mich drauf. Ich liebe dich, deine Mama»
«Und was tut der Mama wo weh?», fragt Laurin, nachdem ich ihm den Brief zu Hause am Esstisch vorgelesen habe. Petra hatte die Briefe für Laurin und Melina wie angekündigt in den Briefkasten geworfen. Melinas Brief habe ich ungeöffnet auf ihren Schreibtisch gelegt. Sie ist noch unterwegs.
«Tja», sage ich zu Laurin. «Die Seele tut der Mama weh, würde ich mal sagen.»
«Und wo ist die Seele?»
«In uns drin.»
«Wo genau?»
«Na ja … die ist irgendwie überall.»
«Dann tut’s der Mama überall weh?»
«Ja, sozusagen, aber nicht die ganze Zeit.»
«Dann können wir sie ja besuchen, wenn’s mal nicht wehtut, oder, Papa?»
«Nee, das können wir leider nicht.»
«Will ich aber.»
«Das verstehe ich, Laurin, aber …»
«Ich will aaaber!!!»
Laurin weint, schreit und schmeißt den Apfelschorlenbecher samt Inhalt an die Wand.
Franziska, du bist eine blöde Kuh, denke ich.
Ich habe immer geglaubt, ich hätte alles im Griff. Alles am Laufen halten. Weiter, weiter, weiter. Nie hätte ich gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin. Ich fühle mich wie eine Sprudelwasserflasche, die man jahrelang geschüttelt hat. Und plötzlich ist der Verschluss aufgegangen. Es war nicht aufzuhalten. Blopp! Ich musste weg. Weit weg. Ich schäme mich. Ich hasse mich dafür, die Kontrolle verloren zu haben. Ich habe gehandelt, ohne zu denken. Scheiße. Ich werde Melina und Laurin nicht zumuten wollen, mir zu verzeihen. Das ist nicht zu verzeihen. Ich muss wieder zu Sinnen gekommen. Mein letzter Rest Verstand hat mich hierhergetrieben. Oh Gott, ich bin so wirr und so daneben, so ausgebrannt. Auch wenn mir diese Jammerlappen-Kollegen mit ihrem Sabbatjahren- und Burn-out-Gequatsche immer tierisch auf den Senkel gegangen sind. Mir pfeift auch seit drei Jahren mein linkes Ohr, und ich mach da kein Riesending draus. Schon jetzt vermisse ich die Kinder. Sie tun mir leid, und ich schäme mich vor ihnen. Nur, was nützen mir meine Schuldgefühle? Ich werde mich wieder in den Griff bekommen. Das weiß ich. Das habe ich bis jetzt immer geschafft. Rumjammern sollen andere, das kann Henning jetzt machen. Da ist er ja Profi drin. Ich sehe sein selbstmitleidiges Gesicht vor mir. Wie er jetzt mit seinem Schicksal hadert. Soll er jetzt zur Abwechslung einmal Verantwortung übernehmen. Ich weiß nicht, was wird. Ich muss nachdenken. Ich weiß, dass Henning mir nicht nachspüren wird. Dazu fehlt ihm der
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